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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
bei Kriegen des Oberstaates (die eigentliche Vasallität). Erhebung
des erstern gegen den letztern ist jedenfalls nicht Krieg im völker-
rechtlichen Sinne (unten § 39 I).

Die Rechtsstellung des halbsouveränen Staates dem oberherr-
lichen Staate gegenüber kann unter die Garantie dritter Mächte
gestellt sein.

Die Begründung einer bisher nicht bestandenen Oberherr-
schaft bedarf an sich nicht der Zustimmung oder der Anerkennung
dritter Mächte. Doch haben diese ein Einspruchsrecht, soweit
durch diese Veränderung in ihre wohlerworbenen Rechte eingegriffen
wird (darüber unten § 20 II). Die Aufkündigung der Schutzherr-
schaft durch den Unterstaat ist ausgeschlossen, da er ja gerade in
dem Verhältnisse zu dem Oberstaate sich seiner staatlichen Souve-
ränität begeben hat. Die Aufkündigung hat ebensowenig unmittel-
bare Rechtswirkung wie etwa die Unabhängigkeitserklärung einer
Kolonie.

Die wichtigsten halbsouveränen Staaten sind heute:

a) Unter der Oberherrlichkeit der Türkei:

1. Egypten, seit dem Vertrag zwischen England, Russland,
Österreich, Preussen vom 15. Juli 1840 (Beitritt Frankreichs am
10. Juli 1841) und den Firmanen von 1841 und 1873 und trotz
der Schmälerung der Egypten eingeräumten Rechte durch die Fir-
mane von 1879 und 1892.

Dagegen behauptet ein anonymer Aufsatz in R. G. III 291, dass Egypten
nach wie vor Provinz des ottomanischen Reiches sei, da der Sultan
die Hoheitsrechte dem Khedive nicht zu eigenem Rechte abgetreten,
sondern nur der Ausübung nach delegiert habe.

2. Bulgarien, durch den Berliner Vertrag von 1878 unter
der Kollektivgarantie der Signatarmächte.

b) Unter der Oberherrlichkeit von Spanien und Frankreich:
die Republik Andorra.
c) Unter der Oberherrlichkeit Frankreichs:

1. in Hinterindien die Königreiche Kambodja (durch Verträge
von 1863 und vom 17. Juni 1884) und Annam (durch Verträge von
1874 und 6. Juni 1884).


I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
bei Kriegen des Oberstaates (die eigentliche Vasallität). Erhebung
des erstern gegen den letztern ist jedenfalls nicht Krieg im völker-
rechtlichen Sinne (unten § 39 I).

Die Rechtsstellung des halbsouveränen Staates dem oberherr-
lichen Staate gegenüber kann unter die Garantie dritter Mächte
gestellt sein.

Die Begründung einer bisher nicht bestandenen Oberherr-
schaft bedarf an sich nicht der Zustimmung oder der Anerkennung
dritter Mächte. Doch haben diese ein Einspruchsrecht, soweit
durch diese Veränderung in ihre wohlerworbenen Rechte eingegriffen
wird (darüber unten § 20 II). Die Aufkündigung der Schutzherr-
schaft durch den Unterstaat ist ausgeschlossen, da er ja gerade in
dem Verhältnisse zu dem Oberstaate sich seiner staatlichen Souve-
ränität begeben hat. Die Aufkündigung hat ebensowenig unmittel-
bare Rechtswirkung wie etwa die Unabhängigkeitserklärung einer
Kolonie.

Die wichtigsten halbsouveränen Staaten sind heute:

a) Unter der Oberherrlichkeit der Türkei:

1. Egypten, seit dem Vertrag zwischen England, Ruſsland,
Österreich, Preuſsen vom 15. Juli 1840 (Beitritt Frankreichs am
10. Juli 1841) und den Firmanen von 1841 und 1873 und trotz
der Schmälerung der Egypten eingeräumten Rechte durch die Fir-
mane von 1879 und 1892.

Dagegen behauptet ein anonymer Aufsatz in R. G. III 291, daſs Egypten
nach wie vor Provinz des ottomanischen Reiches sei, da der Sultan
die Hoheitsrechte dem Khedive nicht zu eigenem Rechte abgetreten,
sondern nur der Ausübung nach delegiert habe.

2. Bulgarien, durch den Berliner Vertrag von 1878 unter
der Kollektivgarantie der Signatarmächte.

b) Unter der Oberherrlichkeit von Spanien und Frankreich:
die Republik Andorra.
c) Unter der Oberherrlichkeit Frankreichs:

1. in Hinterindien die Königreiche Kambodja (durch Verträge
von 1863 und vom 17. Juni 1884) und Annam (durch Verträge von
1874 und 6. Juni 1884).


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[32/0054] I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung. bei Kriegen des Oberstaates (die eigentliche Vasallität). Erhebung des erstern gegen den letztern ist jedenfalls nicht Krieg im völker- rechtlichen Sinne (unten § 39 I). Die Rechtsstellung des halbsouveränen Staates dem oberherr- lichen Staate gegenüber kann unter die Garantie dritter Mächte gestellt sein. Die Begründung einer bisher nicht bestandenen Oberherr- schaft bedarf an sich nicht der Zustimmung oder der Anerkennung dritter Mächte. Doch haben diese ein Einspruchsrecht, soweit durch diese Veränderung in ihre wohlerworbenen Rechte eingegriffen wird (darüber unten § 20 II). Die Aufkündigung der Schutzherr- schaft durch den Unterstaat ist ausgeschlossen, da er ja gerade in dem Verhältnisse zu dem Oberstaate sich seiner staatlichen Souve- ränität begeben hat. Die Aufkündigung hat ebensowenig unmittel- bare Rechtswirkung wie etwa die Unabhängigkeitserklärung einer Kolonie. Die wichtigsten halbsouveränen Staaten sind heute: a) Unter der Oberherrlichkeit der Türkei: 1. Egypten, seit dem Vertrag zwischen England, Ruſsland, Österreich, Preuſsen vom 15. Juli 1840 (Beitritt Frankreichs am 10. Juli 1841) und den Firmanen von 1841 und 1873 und trotz der Schmälerung der Egypten eingeräumten Rechte durch die Fir- mane von 1879 und 1892. Dagegen behauptet ein anonymer Aufsatz in R. G. III 291, daſs Egypten nach wie vor Provinz des ottomanischen Reiches sei, da der Sultan die Hoheitsrechte dem Khedive nicht zu eigenem Rechte abgetreten, sondern nur der Ausübung nach delegiert habe. 2. Bulgarien, durch den Berliner Vertrag von 1878 unter der Kollektivgarantie der Signatarmächte. b) Unter der Oberherrlichkeit von Spanien und Frankreich: die Republik Andorra. c) Unter der Oberherrlichkeit Frankreichs: 1. in Hinterindien die Königreiche Kambodja (durch Verträge von 1863 und vom 17. Juni 1884) und Annam (durch Verträge von 1874 und 6. Juni 1884).

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/54>, abgerufen am 29.03.2024.