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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.

gesta; sie haben an die Kriegführenden den Anspruch, von den Feind-
seligkeiten unberührt zu bleiben; und sie haben den Kriegführenden
gegenüber die Verpflichtung, an den Feindseligkeiten keinen Anteil zu
nehmen.

Die Rechtsstellung der Neutralen tritt ohne weiteres mit dem
Kriegszustande ein. Die am Krieg nicht beteiligten Staaten pflegen
jedoch noch besondere Neutralitätserklärungen abzugeben; doch ist
die Unterlassung dieser Erklärung ohne rechtliche Bedeutung. Das
Deutsche Reich hat daher keine Rechtspflicht verletzt, als es während
des spanisch-nordamerikanischen Krieges von 1898 eine besondere
Neutralitätserklärung unterliess; es hat aber auch durch diese Unter-
lassung seine Rechtsstellung in keiner Beziehung geändert.

1. Der strenge Rechtsbegriff der Neutralität ist dem alten
Völkerrecht fremd; von der Willkür des Kriegführenden hing es
ab, ob er diejenigen Mächte, die nicht für ihn waren, als seine
Feinde ansehen wollte oder nicht. Verschiedene Vereinbarungen
einzelner Mächte (Pyrenäenvertrag 1659, Utrechter Frieden 1713)
sowie insbesondere auch die Bemühungen Preussens hatten keinen
bleibenden Erfolg. Erst durch die bewaffnete Neutralität (oben S. 12)
wurde von den neutralen Mächten unter der Führung von Russland
und Frankreich die Rechtsstellung der am Kriege nicht beteiligten
Staaten zur Anerkennung gebracht; und nach der rückläufigen Be-
wegung während der grossen Kämpfe der napoleonischen Zeit
bildete die Einigung der grossen Seemächte England und Frank-
reich im Krimkrieg und der auf dieser Übereinstimmung beruhende
Pariser Frieden von 1856 einen neuen und wesentlichen Fortschritt
in der Anerkennung der den Neutralen zustehenden Rechte.

2. Der Begriff der Neutralität lässt Abstufungen nicht zu.
Jede Beteiligung am Kriege, sei es auch nur durch die Zahlung
von Subsidien, die Stellung von Hilfstruppen, die Gewährung von
Schiffen und andern Kriegsmaterialien, die Gestattung des Durch-
zugs u. s. w. vernichtet die aus der Neutralität fliessenden Rechte.
Auch die sogenannte "wohlwollende Neutralität" (neutralite bien-
veillante), wie sie 1870 Bismarck von England begehrte und wie

IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung.

gesta; sie haben an die Kriegführenden den Anspruch, von den Feind-
seligkeiten unberührt zu bleiben; und sie haben den Kriegführenden
gegenüber die Verpflichtung, an den Feindseligkeiten keinen Anteil zu
nehmen.

Die Rechtsstellung der Neutralen tritt ohne weiteres mit dem
Kriegszustande ein. Die am Krieg nicht beteiligten Staaten pflegen
jedoch noch besondere Neutralitätserklärungen abzugeben; doch ist
die Unterlassung dieser Erklärung ohne rechtliche Bedeutung. Das
Deutsche Reich hat daher keine Rechtspflicht verletzt, als es während
des spanisch-nordamerikanischen Krieges von 1898 eine besondere
Neutralitätserklärung unterlieſs; es hat aber auch durch diese Unter-
lassung seine Rechtsstellung in keiner Beziehung geändert.

1. Der strenge Rechtsbegriff der Neutralität ist dem alten
Völkerrecht fremd; von der Willkür des Kriegführenden hing es
ab, ob er diejenigen Mächte, die nicht für ihn waren, als seine
Feinde ansehen wollte oder nicht. Verschiedene Vereinbarungen
einzelner Mächte (Pyrenäenvertrag 1659, Utrechter Frieden 1713)
sowie insbesondere auch die Bemühungen Preuſsens hatten keinen
bleibenden Erfolg. Erst durch die bewaffnete Neutralität (oben S. 12)
wurde von den neutralen Mächten unter der Führung von Ruſsland
und Frankreich die Rechtsstellung der am Kriege nicht beteiligten
Staaten zur Anerkennung gebracht; und nach der rückläufigen Be-
wegung während der groſsen Kämpfe der napoleonischen Zeit
bildete die Einigung der groſsen Seemächte England und Frank-
reich im Krimkrieg und der auf dieser Übereinstimmung beruhende
Pariser Frieden von 1856 einen neuen und wesentlichen Fortschritt
in der Anerkennung der den Neutralen zustehenden Rechte.

2. Der Begriff der Neutralität läſst Abstufungen nicht zu.
Jede Beteiligung am Kriege, sei es auch nur durch die Zahlung
von Subsidien, die Stellung von Hilfstruppen, die Gewährung von
Schiffen und andern Kriegsmaterialien, die Gestattung des Durch-
zugs u. s. w. vernichtet die aus der Neutralität flieſsenden Rechte.
Auch die sogenannte „wohlwollende Neutralität“ (neutralité bien-
veillante), wie sie 1870 Bismarck von England begehrte und wie

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[240/0262] IV. Buch. Die Staatenstreitigkeiten und deren Austragung. gesta; sie haben an die Kriegführenden den Anspruch, von den Feind- seligkeiten unberührt zu bleiben; und sie haben den Kriegführenden gegenüber die Verpflichtung, an den Feindseligkeiten keinen Anteil zu nehmen. Die Rechtsstellung der Neutralen tritt ohne weiteres mit dem Kriegszustande ein. Die am Krieg nicht beteiligten Staaten pflegen jedoch noch besondere Neutralitätserklärungen abzugeben; doch ist die Unterlassung dieser Erklärung ohne rechtliche Bedeutung. Das Deutsche Reich hat daher keine Rechtspflicht verletzt, als es während des spanisch-nordamerikanischen Krieges von 1898 eine besondere Neutralitätserklärung unterlieſs; es hat aber auch durch diese Unter- lassung seine Rechtsstellung in keiner Beziehung geändert. 1. Der strenge Rechtsbegriff der Neutralität ist dem alten Völkerrecht fremd; von der Willkür des Kriegführenden hing es ab, ob er diejenigen Mächte, die nicht für ihn waren, als seine Feinde ansehen wollte oder nicht. Verschiedene Vereinbarungen einzelner Mächte (Pyrenäenvertrag 1659, Utrechter Frieden 1713) sowie insbesondere auch die Bemühungen Preuſsens hatten keinen bleibenden Erfolg. Erst durch die bewaffnete Neutralität (oben S. 12) wurde von den neutralen Mächten unter der Führung von Ruſsland und Frankreich die Rechtsstellung der am Kriege nicht beteiligten Staaten zur Anerkennung gebracht; und nach der rückläufigen Be- wegung während der groſsen Kämpfe der napoleonischen Zeit bildete die Einigung der groſsen Seemächte England und Frank- reich im Krimkrieg und der auf dieser Übereinstimmung beruhende Pariser Frieden von 1856 einen neuen und wesentlichen Fortschritt in der Anerkennung der den Neutralen zustehenden Rechte. 2. Der Begriff der Neutralität läſst Abstufungen nicht zu. Jede Beteiligung am Kriege, sei es auch nur durch die Zahlung von Subsidien, die Stellung von Hilfstruppen, die Gewährung von Schiffen und andern Kriegsmaterialien, die Gestattung des Durch- zugs u. s. w. vernichtet die aus der Neutralität flieſsenden Rechte. Auch die sogenannte „wohlwollende Neutralität“ (neutralité bien- veillante), wie sie 1870 Bismarck von England begehrte und wie

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/262>, abgerufen am 18.04.2024.