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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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§ 39. Der Krieg als völkerrechtliches Rechtsverhältnis.

Verletzung der Rechtssätze des Kriegsrechts erzeugt die all-
gemeinen Unrechtsfolgen (oben § 24); doch findet auch hier der
Begriff des Notstandes (als necessite de guerre oder Kriegsraison)
Anwendung. Im Notstand und als Repressalien (unten § 40 III)
sind auch Handlungen gestattet, die dem strengen Kriegsrecht (der
Kriegsmanier) zuwiderlaufen.

IV.

Der Kriegszustand als der Inbegriff der durch den Krieg er-
zeugten Rechtsverhältnisse beginnt entweder mit der förmlichen Kriegs-
erklärung oder aber mit dem thatsächlichen Ausbruch der Feindselig-
keiten auf beiden Seiten.

Die Kriegserklärung ist mithin nicht unbedingt notwendig
(teilweise bestritten); doch haben Frankreich 1870 und Russland 1877
dem Gegner den Krieg erklärt. Sie bedarf keiner besonderen
Form; sie muss jedoch als empfangsbedürftige Willenserklärung
(oben § 20 II) den Entschluss, den Kriegszustand herbeizuführen,
dem Gegner gegenüber zum unzweideutigen Ausdruck bringen. Ver-
weigerte Entgegennehmung der Kriegserklärung steht der erfolgten
Entgegennehmung gleich. Eine Erklärung, die, ohne zur Kenntnis
des Gegners gebracht zu werden, nur den eigenen Staatsangehörigen
oder dritten Mächten gegenüber erfolgt, begründet den Kriegs-
zustand nicht. Andrerseits ist Verständigung der Neutralen
wünschenswert, aber nicht erforderlich. Die Kriegserklärung kann
als bedingte Erklärung abgegeben werden (Ultimatum); sie kann
auch betagt sein. Bei fehlender Kriegserklärung genügt einseitige
Waffengewalt nicht; gewaltsame Abwehr des Angriffs durch den
Angegriffenen (vis mutua) ist vielmehr erforderlich, um den Kriegs-
zustand zu erzeugen.

Vgl. de Saint-Croix, De la declaration de guerre et ses effets imme-
diats, 1892.

Feraud-Giraud, R. J. XVII 19.

Der Kriegszustand äussert seine Wirkung:

1. In staatsrechtlicher Beziehung auf das Verhältnis der Staats-
gewalt zu den ihr unterworfenen Personen.

Hierher gehören: Der Eintritt des Kriegs- oder Standrechts;
die Zurückberufung der im Ausland weilenden Staatsangehörigen; das

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§ 39. Der Krieg als völkerrechtliches Rechtsverhältnis.

Verletzung der Rechtssätze des Kriegsrechts erzeugt die all-
gemeinen Unrechtsfolgen (oben § 24); doch findet auch hier der
Begriff des Notstandes (als nécessité de guerre oder Kriegsraison)
Anwendung. Im Notstand und als Repressalien (unten § 40 III)
sind auch Handlungen gestattet, die dem strengen Kriegsrecht (der
Kriegsmanier) zuwiderlaufen.

IV.

Der Kriegszustand als der Inbegriff der durch den Krieg er-
zeugten Rechtsverhältnisse beginnt entweder mit der förmlichen Kriegs-
erklärung oder aber mit dem thatsächlichen Ausbruch der Feindselig-
keiten auf beiden Seiten.

Die Kriegserklärung ist mithin nicht unbedingt notwendig
(teilweise bestritten); doch haben Frankreich 1870 und Ruſsland 1877
dem Gegner den Krieg erklärt. Sie bedarf keiner besonderen
Form; sie muſs jedoch als empfangsbedürftige Willenserklärung
(oben § 20 II) den Entschluſs, den Kriegszustand herbeizuführen,
dem Gegner gegenüber zum unzweideutigen Ausdruck bringen. Ver-
weigerte Entgegennehmung der Kriegserklärung steht der erfolgten
Entgegennehmung gleich. Eine Erklärung, die, ohne zur Kenntnis
des Gegners gebracht zu werden, nur den eigenen Staatsangehörigen
oder dritten Mächten gegenüber erfolgt, begründet den Kriegs-
zustand nicht. Andrerseits ist Verständigung der Neutralen
wünschenswert, aber nicht erforderlich. Die Kriegserklärung kann
als bedingte Erklärung abgegeben werden (Ultimatum); sie kann
auch betagt sein. Bei fehlender Kriegserklärung genügt einseitige
Waffengewalt nicht; gewaltsame Abwehr des Angriffs durch den
Angegriffenen (vis mutua) ist vielmehr erforderlich, um den Kriegs-
zustand zu erzeugen.

Vgl. de Saint-Croix, De la déclaration de guerre et ses effets immé-
diats, 1892.

Féraud-Giraud, R. J. XVII 19.

Der Kriegszustand äuſsert seine Wirkung:

1. In staatsrechtlicher Beziehung auf das Verhältnis der Staats-
gewalt zu den ihr unterworfenen Personen.

Hierher gehören: Der Eintritt des Kriegs- oder Standrechts;
die Zurückberufung der im Ausland weilenden Staatsangehörigen; das

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[211/0233] § 39. Der Krieg als völkerrechtliches Rechtsverhältnis. Verletzung der Rechtssätze des Kriegsrechts erzeugt die all- gemeinen Unrechtsfolgen (oben § 24); doch findet auch hier der Begriff des Notstandes (als nécessité de guerre oder Kriegsraison) Anwendung. Im Notstand und als Repressalien (unten § 40 III) sind auch Handlungen gestattet, die dem strengen Kriegsrecht (der Kriegsmanier) zuwiderlaufen. IV. Der Kriegszustand als der Inbegriff der durch den Krieg er- zeugten Rechtsverhältnisse beginnt entweder mit der förmlichen Kriegs- erklärung oder aber mit dem thatsächlichen Ausbruch der Feindselig- keiten auf beiden Seiten. Die Kriegserklärung ist mithin nicht unbedingt notwendig (teilweise bestritten); doch haben Frankreich 1870 und Ruſsland 1877 dem Gegner den Krieg erklärt. Sie bedarf keiner besonderen Form; sie muſs jedoch als empfangsbedürftige Willenserklärung (oben § 20 II) den Entschluſs, den Kriegszustand herbeizuführen, dem Gegner gegenüber zum unzweideutigen Ausdruck bringen. Ver- weigerte Entgegennehmung der Kriegserklärung steht der erfolgten Entgegennehmung gleich. Eine Erklärung, die, ohne zur Kenntnis des Gegners gebracht zu werden, nur den eigenen Staatsangehörigen oder dritten Mächten gegenüber erfolgt, begründet den Kriegs- zustand nicht. Andrerseits ist Verständigung der Neutralen wünschenswert, aber nicht erforderlich. Die Kriegserklärung kann als bedingte Erklärung abgegeben werden (Ultimatum); sie kann auch betagt sein. Bei fehlender Kriegserklärung genügt einseitige Waffengewalt nicht; gewaltsame Abwehr des Angriffs durch den Angegriffenen (vis mutua) ist vielmehr erforderlich, um den Kriegs- zustand zu erzeugen. Vgl. de Saint-Croix, De la déclaration de guerre et ses effets immé- diats, 1892. Féraud-Giraud, R. J. XVII 19. Der Kriegszustand äuſsert seine Wirkung: 1. In staatsrechtlicher Beziehung auf das Verhältnis der Staats- gewalt zu den ihr unterworfenen Personen. Hierher gehören: Der Eintritt des Kriegs- oder Standrechts; die Zurückberufung der im Ausland weilenden Staatsangehörigen; das 14*

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/233>, abgerufen am 23.04.2024.