Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 38. Erledigung ohne Waffengewalt.

keiten, bei welchen die Ehre oder die Unabhängigkeit des Staates in
Frage steht) einem Schiedsgericht überwiesen werden, sind zwischen
einzelnen Staaten, insbesondere Mittel- und Südamerikas geschlossen
worden, ohne aber bisher greifbare Wirkung erzielt zu haben.

Am umfassendsten ist der am 19. April 1890 zu Washington
zwischen den meisten Staaten "der drei Amerika" geschlossene
Vertrag. Der vielbesprochene englisch-amerikanische Vertrag vom
12. Januar 1897 ist durch den Senat der Vereinigten Staaten am
5. Mai desselben Jahres abgelehnt worden.

4. Die weit zurückreichenden Bemühungen, einen ständigen
Staatengerichtshof für die Erledigung völkerrechtlicher Streitigkeiten
einzurichten, haben durch die Vorschläge, welche von der interparla-
mentarischen Friedenskonferenz zu Brüssel 1895 ausgearbeitet worden
sind, greifbare Gestalt gewonnen.

Der Vorschlag ruht auf dem Gedanken eines Staatenverbandes
(oben § 17 I), durch welchen ein ständiger Schiedsgerichtshof ge-
bildet werden soll, dem die Vertragsstaaten die zwischen ihnen
entstehenden Streitigkeiten zuweisen können, soweit sie es nicht
vorziehen, sie auf anderm Wege zur Erledigung zu bringen. Durch
diese Einschränkung wird die Souveränität der beteiligten Staaten
in vollem Umfang gewahrt und damit das wichtigste der Bedenken
beseitigt, die gegen jeden derartigen Vorschlag geltend gemacht
zu werden pflegen.

Vgl. Descamps, Die Organisation eines internationalen Schiedsgerichtes.
Autorisierte deutsche Übersetzung von A. K. Fried s. a.

Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht 1873 bis 1875.

III.

Zu den friedlichen Mitteln der Durchsetzung eines behaupteten
Anspruches wird aber auch unter gewissen Voraussetzungen die An-
wendung nichtkriegerischer Gewalt, als Akt der völkerrechtlichen Selbst-
hilfe gerechnet.

Das Eigentümliche dieser Gewaltmassregeln liegt darin, dass ihre
Anwendung den Kriegszustand mit seinen Rechtsfolgen nicht erzeugt.

1. Hierher gehört zunächst die Retorsion oder Vergeltung. Sie
besteht darin, dass eine unbillige Massregel, die ein Staat gegen einen
andern Staat ergreift, durch eine andere Unbilligkeit erwidert wird;
und ihr Zweck geht dahin, die Beseitigung jener ersten unbilligen
Massregel herbeizuführen.


§ 38. Erledigung ohne Waffengewalt.

keiten, bei welchen die Ehre oder die Unabhängigkeit des Staates in
Frage steht) einem Schiedsgericht überwiesen werden, sind zwischen
einzelnen Staaten, insbesondere Mittel- und Südamerikas geschlossen
worden, ohne aber bisher greifbare Wirkung erzielt zu haben.

Am umfassendsten ist der am 19. April 1890 zu Washington
zwischen den meisten Staaten „der drei Amerika“ geschlossene
Vertrag. Der vielbesprochene englisch-amerikanische Vertrag vom
12. Januar 1897 ist durch den Senat der Vereinigten Staaten am
5. Mai desselben Jahres abgelehnt worden.

4. Die weit zurückreichenden Bemühungen, einen ständigen
Staatengerichtshof für die Erledigung völkerrechtlicher Streitigkeiten
einzurichten, haben durch die Vorschläge, welche von der interparla-
mentarischen Friedenskonferenz zu Brüssel 1895 ausgearbeitet worden
sind, greifbare Gestalt gewonnen.

Der Vorschlag ruht auf dem Gedanken eines Staatenverbandes
(oben § 17 I), durch welchen ein ständiger Schiedsgerichtshof ge-
bildet werden soll, dem die Vertragsstaaten die zwischen ihnen
entstehenden Streitigkeiten zuweisen können, soweit sie es nicht
vorziehen, sie auf anderm Wege zur Erledigung zu bringen. Durch
diese Einschränkung wird die Souveränität der beteiligten Staaten
in vollem Umfang gewahrt und damit das wichtigste der Bedenken
beseitigt, die gegen jeden derartigen Vorschlag geltend gemacht
zu werden pflegen.

Vgl. Descamps, Die Organisation eines internationalen Schiedsgerichtes.
Autorisierte deutsche Übersetzung von A. K. Fried s. a.

Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht 1873 bis 1875.

III.

Zu den friedlichen Mitteln der Durchsetzung eines behaupteten
Anspruches wird aber auch unter gewissen Voraussetzungen die An-
wendung nichtkriegerischer Gewalt, als Akt der völkerrechtlichen Selbst-
hilfe gerechnet.

Das Eigentümliche dieser Gewaltmaſsregeln liegt darin, daſs ihre
Anwendung den Kriegszustand mit seinen Rechtsfolgen nicht erzeugt.

1. Hierher gehört zunächst die Retorsion oder Vergeltung. Sie
besteht darin, daſs eine unbillige Maſsregel, die ein Staat gegen einen
andern Staat ergreift, durch eine andere Unbilligkeit erwidert wird;
und ihr Zweck geht dahin, die Beseitigung jener ersten unbilligen
Maſsregel herbeizuführen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p>
              <pb facs="#f0225" n="203"/>
              <fw place="top" type="header">§ 38. Erledigung ohne Waffengewalt.</fw><lb/> <hi rendition="#b">keiten, bei welchen die Ehre oder die Unabhängigkeit des Staates in<lb/>
Frage steht) einem Schiedsgericht überwiesen werden, sind zwischen<lb/>
einzelnen Staaten, insbesondere Mittel- und Südamerikas geschlossen<lb/>
worden, ohne aber bisher greifbare Wirkung erzielt zu haben.</hi> </p><lb/>
            <p>Am umfassendsten ist der am 19. April 1890 zu Washington<lb/>
zwischen den meisten Staaten &#x201E;der drei Amerika&#x201C; geschlossene<lb/>
Vertrag. Der vielbesprochene englisch-amerikanische Vertrag vom<lb/>
12. Januar 1897 ist durch den Senat der Vereinigten Staaten am<lb/>
5. Mai desselben Jahres abgelehnt worden.</p><lb/>
            <p> <hi rendition="#b">4. Die weit zurückreichenden Bemühungen, einen ständigen<lb/>
Staatengerichtshof für die Erledigung völkerrechtlicher Streitigkeiten<lb/>
einzurichten, haben durch die Vorschläge, welche von der interparla-<lb/>
mentarischen Friedenskonferenz zu Brüssel 1895 ausgearbeitet worden<lb/>
sind, greifbare Gestalt gewonnen.</hi> </p><lb/>
            <p>Der Vorschlag ruht auf dem Gedanken eines Staatenverbandes<lb/>
(oben § 17 I), durch welchen ein ständiger Schiedsgerichtshof ge-<lb/>
bildet werden soll, dem die Vertragsstaaten die zwischen ihnen<lb/>
entstehenden Streitigkeiten zuweisen <hi rendition="#g">können</hi>, soweit sie es nicht<lb/>
vorziehen, sie auf anderm Wege zur Erledigung zu bringen. Durch<lb/>
diese Einschränkung wird die Souveränität der beteiligten Staaten<lb/>
in vollem Umfang gewahrt und damit das wichtigste der Bedenken<lb/>
beseitigt, die gegen jeden derartigen Vorschlag geltend gemacht<lb/>
zu werden pflegen.</p><lb/>
            <p> <hi rendition="#et">Vgl. <hi rendition="#g">Descamps</hi>, Die Organisation eines internationalen Schiedsgerichtes.<lb/>
Autorisierte deutsche Übersetzung von A. K. <hi rendition="#g">Fried</hi> s. a.</hi> </p><lb/>
            <p> <hi rendition="#et">Verhandlungen des <hi rendition="#g">Instituts</hi> für Völkerrecht 1873 bis 1875.</hi> </p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">III.</hi> </head>
            <p> <hi rendition="#b">Zu den friedlichen Mitteln der Durchsetzung eines behaupteten<lb/>
Anspruches wird aber auch unter gewissen Voraussetzungen die An-<lb/>
wendung nichtkriegerischer Gewalt, als Akt der völkerrechtlichen Selbst-<lb/>
hilfe gerechnet.</hi> </p><lb/>
            <p> <hi rendition="#b">Das Eigentümliche dieser Gewaltma&#x017F;sregeln liegt darin, da&#x017F;s ihre<lb/>
Anwendung den Kriegszustand mit seinen Rechtsfolgen nicht erzeugt.</hi> </p><lb/>
            <p> <hi rendition="#b">1. Hierher gehört zunächst die Retorsion oder Vergeltung. Sie<lb/>
besteht darin, da&#x017F;s eine unbillige Ma&#x017F;sregel, die ein Staat gegen einen<lb/>
andern Staat ergreift, durch eine andere Unbilligkeit erwidert wird;<lb/>
und ihr Zweck geht dahin, die Beseitigung jener ersten unbilligen<lb/>
Ma&#x017F;sregel herbeizuführen.</hi> </p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[203/0225] § 38. Erledigung ohne Waffengewalt. keiten, bei welchen die Ehre oder die Unabhängigkeit des Staates in Frage steht) einem Schiedsgericht überwiesen werden, sind zwischen einzelnen Staaten, insbesondere Mittel- und Südamerikas geschlossen worden, ohne aber bisher greifbare Wirkung erzielt zu haben. Am umfassendsten ist der am 19. April 1890 zu Washington zwischen den meisten Staaten „der drei Amerika“ geschlossene Vertrag. Der vielbesprochene englisch-amerikanische Vertrag vom 12. Januar 1897 ist durch den Senat der Vereinigten Staaten am 5. Mai desselben Jahres abgelehnt worden. 4. Die weit zurückreichenden Bemühungen, einen ständigen Staatengerichtshof für die Erledigung völkerrechtlicher Streitigkeiten einzurichten, haben durch die Vorschläge, welche von der interparla- mentarischen Friedenskonferenz zu Brüssel 1895 ausgearbeitet worden sind, greifbare Gestalt gewonnen. Der Vorschlag ruht auf dem Gedanken eines Staatenverbandes (oben § 17 I), durch welchen ein ständiger Schiedsgerichtshof ge- bildet werden soll, dem die Vertragsstaaten die zwischen ihnen entstehenden Streitigkeiten zuweisen können, soweit sie es nicht vorziehen, sie auf anderm Wege zur Erledigung zu bringen. Durch diese Einschränkung wird die Souveränität der beteiligten Staaten in vollem Umfang gewahrt und damit das wichtigste der Bedenken beseitigt, die gegen jeden derartigen Vorschlag geltend gemacht zu werden pflegen. Vgl. Descamps, Die Organisation eines internationalen Schiedsgerichtes. Autorisierte deutsche Übersetzung von A. K. Fried s. a. Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht 1873 bis 1875. III. Zu den friedlichen Mitteln der Durchsetzung eines behaupteten Anspruches wird aber auch unter gewissen Voraussetzungen die An- wendung nichtkriegerischer Gewalt, als Akt der völkerrechtlichen Selbst- hilfe gerechnet. Das Eigentümliche dieser Gewaltmaſsregeln liegt darin, daſs ihre Anwendung den Kriegszustand mit seinen Rechtsfolgen nicht erzeugt. 1. Hierher gehört zunächst die Retorsion oder Vergeltung. Sie besteht darin, daſs eine unbillige Maſsregel, die ein Staat gegen einen andern Staat ergreift, durch eine andere Unbilligkeit erwidert wird; und ihr Zweck geht dahin, die Beseitigung jener ersten unbilligen Maſsregel herbeizuführen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/225
Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/225>, abgerufen am 25.04.2024.