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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Das Verbrechen. § 4.
und dem republikanischen Gemeinwesen, im Agrikultur- und
im Industriestaate usw.

c) In der Art des Angriffes. Von den beiden
Hauptarten: Trug und Gewalt, fraus und vis, tritt bald
die eine, bald die andere, je nach Volkscharakter und Zeit-
verhältnissen, als die gefährlichere in den Vordergrund. Man
vergleiche das Verhältnis des Raubes zum Diebstal nach
altdeutscher und nach moderner Auffassung.

d) In der Häufigkeit des Angriffes. Das Ueber-
handnehmen gewisser Delikte (Fälschung von Nahrungsmit-
teln, sozial-demokratische Umtriebe, Wucher usw.) kann die
Gesetzgebung veranlassen, den strafenden Arm zu erheben.
Nur mag sie Eines dabei nicht vergessen: die Strafe be-
deutet in diesem Falle symptomatische Behandlung eines
tieferliegenden sozialen Leidens; und diese ist auf die Dauer
erfolglos, wenn sich mit ihr nicht die Bekämpfung der Krank-
heitsursache verbindet. Hebung des Volkswohlstandes und der
Volksbildung, freiheitliche Einrichtungen, die das Interesse
des Einzelnen mit dem der Gesammtheit inniger verknüpfen,
Entfaltung all' der positiven Kräfte, die der Staatsverwaltung
in so reichem Maße zur Verfügung stehen: sie allein können
die Krankheitsursache beseitigen und mit ihr die Symptome.

3. Aus dem Gesagten folgt die durch die Geschichte auf
das Glänzendste bestätigte Konsequenz, daß die Grenzlinie
zwischen dem kriminellen und dem civilen Unrechte nicht durch
aprioristische Konstruktion gefunden und gezogen werden kann;
daß sie vielmehr eine durch wechselnde Faktoren bestimmte
und darum schwankende sein muß. Diese Ansicht, zu der sich
Geib, Wahlberg, Merkel, Heinze, Binding, Geyer,
Thon, Ihering, Dahn
u. A. bekennen, ist eine der schönsten
Errungenschaften der modernen Strafrechtswissenschaft.

Das Verbrechen. § 4.
und dem republikaniſchen Gemeinweſen, im Agrikultur- und
im Induſtrieſtaate uſw.

c) In der Art des Angriffes. Von den beiden
Hauptarten: Trug und Gewalt, fraus und vis, tritt bald
die eine, bald die andere, je nach Volkscharakter und Zeit-
verhältniſſen, als die gefährlichere in den Vordergrund. Man
vergleiche das Verhältnis des Raubes zum Diebſtal nach
altdeutſcher und nach moderner Auffaſſung.

d) In der Häufigkeit des Angriffes. Das Ueber-
handnehmen gewiſſer Delikte (Fälſchung von Nahrungsmit-
teln, ſozial-demokratiſche Umtriebe, Wucher uſw.) kann die
Geſetzgebung veranlaſſen, den ſtrafenden Arm zu erheben.
Nur mag ſie Eines dabei nicht vergeſſen: die Strafe be-
deutet in dieſem Falle ſymptomatiſche Behandlung eines
tieferliegenden ſozialen Leidens; und dieſe iſt auf die Dauer
erfolglos, wenn ſich mit ihr nicht die Bekämpfung der Krank-
heitsurſache verbindet. Hebung des Volkswohlſtandes und der
Volksbildung, freiheitliche Einrichtungen, die das Intereſſe
des Einzelnen mit dem der Geſammtheit inniger verknüpfen,
Entfaltung all’ der poſitiven Kräfte, die der Staatsverwaltung
in ſo reichem Maße zur Verfügung ſtehen: ſie allein können
die Krankheitsurſache beſeitigen und mit ihr die Symptome.

3. Aus dem Geſagten folgt die durch die Geſchichte auf
das Glänzendſte beſtätigte Konſequenz, daß die Grenzlinie
zwiſchen dem kriminellen und dem civilen Unrechte nicht durch
aprioriſtiſche Konſtruktion gefunden und gezogen werden kann;
daß ſie vielmehr eine durch wechſelnde Faktoren beſtimmte
und darum ſchwankende ſein muß. Dieſe Anſicht, zu der ſich
Geib, Wahlberg, Merkel, Heinze, Binding, Geyer,
Thon, Ihering, Dahn
u. A. bekennen, iſt eine der ſchönſten
Errungenſchaften der modernen Strafrechtswiſſenſchaft.

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[13/0039] Das Verbrechen. § 4. und dem republikaniſchen Gemeinweſen, im Agrikultur- und im Induſtrieſtaate uſw. c) In der Art des Angriffes. Von den beiden Hauptarten: Trug und Gewalt, fraus und vis, tritt bald die eine, bald die andere, je nach Volkscharakter und Zeit- verhältniſſen, als die gefährlichere in den Vordergrund. Man vergleiche das Verhältnis des Raubes zum Diebſtal nach altdeutſcher und nach moderner Auffaſſung. d) In der Häufigkeit des Angriffes. Das Ueber- handnehmen gewiſſer Delikte (Fälſchung von Nahrungsmit- teln, ſozial-demokratiſche Umtriebe, Wucher uſw.) kann die Geſetzgebung veranlaſſen, den ſtrafenden Arm zu erheben. Nur mag ſie Eines dabei nicht vergeſſen: die Strafe be- deutet in dieſem Falle ſymptomatiſche Behandlung eines tieferliegenden ſozialen Leidens; und dieſe iſt auf die Dauer erfolglos, wenn ſich mit ihr nicht die Bekämpfung der Krank- heitsurſache verbindet. Hebung des Volkswohlſtandes und der Volksbildung, freiheitliche Einrichtungen, die das Intereſſe des Einzelnen mit dem der Geſammtheit inniger verknüpfen, Entfaltung all’ der poſitiven Kräfte, die der Staatsverwaltung in ſo reichem Maße zur Verfügung ſtehen: ſie allein können die Krankheitsurſache beſeitigen und mit ihr die Symptome. 3. Aus dem Geſagten folgt die durch die Geſchichte auf das Glänzendſte beſtätigte Konſequenz, daß die Grenzlinie zwiſchen dem kriminellen und dem civilen Unrechte nicht durch aprioriſtiſche Konſtruktion gefunden und gezogen werden kann; daß ſie vielmehr eine durch wechſelnde Faktoren beſtimmte und darum ſchwankende ſein muß. Dieſe Anſicht, zu der ſich Geib, Wahlberg, Merkel, Heinze, Binding, Geyer, Thon, Ihering, Dahn u. A. bekennen, iſt eine der ſchönſten Errungenſchaften der modernen Strafrechtswiſſenſchaft.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/39>, abgerufen am 18.04.2024.