Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Verbrechen. § 4.
Delikte vielleicht eine ganze Reihe von Verbrechen kor-
respondirt. So bildet das Recht aus dem Delikt der
Tötung folgende Verbrechen: Mord, Todschlag, Tötung
auf Verlangen, Kindesmord, fahrlässige Tötung, Tötung
im Zweikampf, im Raufhandel, bei Gelegenheit eines Ver-
brechens, Körperverletzung mit tötlichem Ausgange usw.

II. So kann also die Norm, die dem Strafgesetze zu
Grunde liegt, eine von diesem losgelöste Existenz führen, ihre
eigene Geschichte haben. Sie kann da sein, lange ehe ein
Strafgesetz existirt; aber ihr Untergang zieht auch das Straf-
gesetz mit sich.

Am deutlichsten vielleicht tritt diese Unabhängigkeit hervor
in den sog. Blankettstrafgesetzen nach Binding ("blinde"
Strafdrohungen nennt sie Heinze). Es sind jene, in welchen
der Gesetzgeber eine Strafe knüpft an die Uebertretung einer
Norm, die von einer anderen Gewalt erlassen ist oder er-
lassen werden soll. Beispiele bieten StGB. §§. 145, 327
u. A. mehr.

III. Und nun fragen wir uns: Warum knüpft der
Gesetzgeber an gewisse Delikte die Strafe als Rechtsfolge?
Diese Frage schließt zwei Unterfragen in sich. Eine nega-
tive
: warum nur an gewisse Delikte? eine positive:
warum gerade an diese gewissen Delikte? Und da jedes
Verbrechen Delikt ist, so können wir die Frage auch so stellen:
Wodurch unterscheidet sich das mit Strafe belegte Delikt
(das sog. kriminelle Unrecht) von dem nicht mit Strafe
belegten (dem sog. civilen Unrecht)?2

1. Die Strafe ist Rechtsgüterschutz durch Rechtsgüter-

2 [Spaltenumbruch] Vgl. insbes. Merkel krim.
Abhandlungen 1867; die übrige[Spaltenumbruch] Literatur bei Meyer Lehrb.
S. 1 Note 1.

Das Verbrechen. § 4.
Delikte vielleicht eine ganze Reihe von Verbrechen kor-
reſpondirt. So bildet das Recht aus dem Delikt der
Tötung folgende Verbrechen: Mord, Todſchlag, Tötung
auf Verlangen, Kindesmord, fahrläſſige Tötung, Tötung
im Zweikampf, im Raufhandel, bei Gelegenheit eines Ver-
brechens, Körperverletzung mit tötlichem Ausgange uſw.

II. So kann alſo die Norm, die dem Strafgeſetze zu
Grunde liegt, eine von dieſem losgelöſte Exiſtenz führen, ihre
eigene Geſchichte haben. Sie kann da ſein, lange ehe ein
Strafgeſetz exiſtirt; aber ihr Untergang zieht auch das Straf-
geſetz mit ſich.

Am deutlichſten vielleicht tritt dieſe Unabhängigkeit hervor
in den ſog. Blankettſtrafgeſetzen nach Binding („blinde“
Strafdrohungen nennt ſie Heinze). Es ſind jene, in welchen
der Geſetzgeber eine Strafe knüpft an die Uebertretung einer
Norm, die von einer anderen Gewalt erlaſſen iſt oder er-
laſſen werden ſoll. Beiſpiele bieten StGB. §§. 145, 327
u. A. mehr.

III. Und nun fragen wir uns: Warum knüpft der
Geſetzgeber an gewiſſe Delikte die Strafe als Rechtsfolge?
Dieſe Frage ſchließt zwei Unterfragen in ſich. Eine nega-
tive
: warum nur an gewiſſe Delikte? eine poſitive:
warum gerade an dieſe gewiſſen Delikte? Und da jedes
Verbrechen Delikt iſt, ſo können wir die Frage auch ſo ſtellen:
Wodurch unterſcheidet ſich das mit Strafe belegte Delikt
(das ſog. kriminelle Unrecht) von dem nicht mit Strafe
belegten (dem ſog. civilen Unrecht)?2

1. Die Strafe iſt Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüter-

2 [Spaltenumbruch] Vgl. insbeſ. Merkel krim.
Abhandlungen 1867; die übrige[Spaltenumbruch] Literatur bei Meyer Lehrb.
S. 1 Note 1.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0037" n="11"/><fw place="top" type="header">Das Verbrechen. § 4.</fw><lb/><hi rendition="#g">Delikte</hi> vielleicht eine ganze Reihe von <hi rendition="#g">Verbrechen</hi> kor-<lb/>
re&#x017F;pondirt. So bildet das Recht aus dem Delikt der<lb/>
Tötung folgende Verbrechen: Mord, Tod&#x017F;chlag, Tötung<lb/>
auf Verlangen, Kindesmord, fahrlä&#x017F;&#x017F;ige Tötung, Tötung<lb/>
im Zweikampf, im Raufhandel, bei Gelegenheit eines Ver-<lb/>
brechens, Körperverletzung mit tötlichem Ausgange u&#x017F;w.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#aq">II.</hi> So kann al&#x017F;o die Norm, die dem Strafge&#x017F;etze zu<lb/>
Grunde liegt, eine von die&#x017F;em losgelö&#x017F;te Exi&#x017F;tenz führen, ihre<lb/>
eigene Ge&#x017F;chichte haben. Sie kann da &#x017F;ein, lange ehe ein<lb/>
Strafge&#x017F;etz exi&#x017F;tirt; aber ihr Untergang zieht auch das Straf-<lb/>
ge&#x017F;etz mit &#x017F;ich.</p><lb/>
            <p>Am deutlich&#x017F;ten vielleicht tritt die&#x017F;e Unabhängigkeit hervor<lb/>
in den &#x017F;og. <hi rendition="#g">Blankett&#x017F;trafge&#x017F;etzen</hi> nach <hi rendition="#g">Binding</hi> (&#x201E;blinde&#x201C;<lb/>
Strafdrohungen nennt &#x017F;ie <hi rendition="#g">Heinze</hi>). Es &#x017F;ind jene, in welchen<lb/>
der Ge&#x017F;etzgeber eine Strafe knüpft an die Uebertretung einer<lb/>
Norm, die von einer anderen Gewalt erla&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t oder er-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en werden &#x017F;oll. Bei&#x017F;piele bieten StGB. §§. 145, 327<lb/>
u. A. mehr.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#aq">III.</hi> Und nun fragen wir uns: <hi rendition="#g">Warum</hi> knüpft der<lb/>
Ge&#x017F;etzgeber an gewi&#x017F;&#x017F;e Delikte die Strafe als Rechtsfolge?<lb/>
Die&#x017F;e Frage &#x017F;chließt zwei Unterfragen in &#x017F;ich. Eine <hi rendition="#g">nega-<lb/>
tive</hi>: warum <hi rendition="#g">nur</hi> an gewi&#x017F;&#x017F;e Delikte? eine <hi rendition="#g">po&#x017F;itive</hi>:<lb/>
warum <hi rendition="#g">gerade</hi> an <hi rendition="#g">die&#x017F;e</hi> gewi&#x017F;&#x017F;en Delikte? Und da jedes<lb/>
Verbrechen Delikt i&#x017F;t, &#x017F;o können wir die Frage auch &#x017F;o &#x017F;tellen:<lb/>
Wodurch unter&#x017F;cheidet &#x017F;ich das mit Strafe belegte Delikt<lb/>
(das &#x017F;og. <hi rendition="#g">kriminelle</hi> Unrecht) von dem nicht mit Strafe<lb/>
belegten (dem &#x017F;og. <hi rendition="#g">civilen</hi> Unrecht)?<note place="foot" n="2"><cb/>
Vgl. insbe&#x017F;. <hi rendition="#g">Merkel</hi> krim.<lb/>
Abhandlungen 1867; die übrige<cb/>
Literatur bei <hi rendition="#g">Meyer</hi> Lehrb.<lb/>
S. 1 Note 1.</note></p><lb/>
            <p>1. Die Strafe i&#x017F;t Rechtsgüter&#x017F;chutz durch Rechtsgüter-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[11/0037] Das Verbrechen. § 4. Delikte vielleicht eine ganze Reihe von Verbrechen kor- reſpondirt. So bildet das Recht aus dem Delikt der Tötung folgende Verbrechen: Mord, Todſchlag, Tötung auf Verlangen, Kindesmord, fahrläſſige Tötung, Tötung im Zweikampf, im Raufhandel, bei Gelegenheit eines Ver- brechens, Körperverletzung mit tötlichem Ausgange uſw. II. So kann alſo die Norm, die dem Strafgeſetze zu Grunde liegt, eine von dieſem losgelöſte Exiſtenz führen, ihre eigene Geſchichte haben. Sie kann da ſein, lange ehe ein Strafgeſetz exiſtirt; aber ihr Untergang zieht auch das Straf- geſetz mit ſich. Am deutlichſten vielleicht tritt dieſe Unabhängigkeit hervor in den ſog. Blankettſtrafgeſetzen nach Binding („blinde“ Strafdrohungen nennt ſie Heinze). Es ſind jene, in welchen der Geſetzgeber eine Strafe knüpft an die Uebertretung einer Norm, die von einer anderen Gewalt erlaſſen iſt oder er- laſſen werden ſoll. Beiſpiele bieten StGB. §§. 145, 327 u. A. mehr. III. Und nun fragen wir uns: Warum knüpft der Geſetzgeber an gewiſſe Delikte die Strafe als Rechtsfolge? Dieſe Frage ſchließt zwei Unterfragen in ſich. Eine nega- tive: warum nur an gewiſſe Delikte? eine poſitive: warum gerade an dieſe gewiſſen Delikte? Und da jedes Verbrechen Delikt iſt, ſo können wir die Frage auch ſo ſtellen: Wodurch unterſcheidet ſich das mit Strafe belegte Delikt (das ſog. kriminelle Unrecht) von dem nicht mit Strafe belegten (dem ſog. civilen Unrecht)? 2 1. Die Strafe iſt Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüter- 2 Vgl. insbeſ. Merkel krim. Abhandlungen 1867; die übrige Literatur bei Meyer Lehrb. S. 1 Note 1.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/37
Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/37>, abgerufen am 29.03.2024.