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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Zweites Buch. IV. Der Wegfall des staatl. Strafanspruchs.
Eine Rechtsfolge ohne rechtschaffende und als solche vom
objektiven Rechte anerkannte Thatsache ist keine Rechtsfolge.
Aber die Macht der Thatsachen spottet nur zu oft der Im-
perative des Rechts; sie setzt sich selbst die Folgen, die das
Recht ihr nicht gewähren will; und sie findet in der Achtung,
die allem Bestehenden entgegengetragen wird, einen Ersatz
für die mangelnde Sanktion des objektiven Rechts. Diesen
Zwiespalt zwischen Recht und Thatsachen kann das Recht
nur dadurch beseitigen, daß es die Thatsachen zu Recht an-
erkennt, die von ihnen erzeugten Folgen zu Rechtsfolgen
erhebt. Das ist der Grundgedanke aller Verjährung. Nicht
die Zeit schafft das Recht: aber das Recht selbst leiht
seine Sanktion den Thatsachen, die eine gewisse Zeit hindurch
sich zu behaupten stark genug waren. Sekundäre Gesichts-
punkte, insbesondere die Schwierigkeiten, die der Feststellung
des Sachverhaltes in den Weg treten, wenn ein längerer
Zeitraum seit seinem Entstehen verflossen ist, fördern die all-
gemeine Anerkennung und umfassende Wirkung des Rechts-
instituts der Verjährung, in welchem der Bruch des Rechts
durch die Thatsachen rechtliche Gestalt und Bedeutung
gewinnt.

So tilgt die Zeit auch den staatlichen Strafanspruch;
die thatsächliche Straflosigkeit des Schuldigen wird vom po-
sitiven Rechte zum Strafaufhebungsgrunde gestempelt. Selbst
eine rechtskräftig gewordene gerichtliche Anerkennung des
staatlichen Strafanspruches hemmt wohl, hindert aber nicht
seinen Untergang. Das moderne Recht kennt neben der
Verfolgungsverjährung (Verjährung der actio ex delicto)
auch die Vollstreckungsverjährung (Verjährung der actio
judicati
).

Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs.
Eine Rechtsfolge ohne rechtſchaffende und als ſolche vom
objektiven Rechte anerkannte Thatſache iſt keine Rechtsfolge.
Aber die Macht der Thatſachen ſpottet nur zu oft der Im-
perative des Rechts; ſie ſetzt ſich ſelbſt die Folgen, die das
Recht ihr nicht gewähren will; und ſie findet in der Achtung,
die allem Beſtehenden entgegengetragen wird, einen Erſatz
für die mangelnde Sanktion des objektiven Rechts. Dieſen
Zwieſpalt zwiſchen Recht und Thatſachen kann das Recht
nur dadurch beſeitigen, daß es die Thatſachen zu Recht an-
erkennt, die von ihnen erzeugten Folgen zu Rechtsfolgen
erhebt. Das iſt der Grundgedanke aller Verjährung. Nicht
die Zeit ſchafft das Recht: aber das Recht ſelbſt leiht
ſeine Sanktion den Thatſachen, die eine gewiſſe Zeit hindurch
ſich zu behaupten ſtark genug waren. Sekundäre Geſichts-
punkte, insbeſondere die Schwierigkeiten, die der Feſtſtellung
des Sachverhaltes in den Weg treten, wenn ein längerer
Zeitraum ſeit ſeinem Entſtehen verfloſſen iſt, fördern die all-
gemeine Anerkennung und umfaſſende Wirkung des Rechts-
inſtituts der Verjährung, in welchem der Bruch des Rechts
durch die Thatſachen rechtliche Geſtalt und Bedeutung
gewinnt.

So tilgt die Zeit auch den ſtaatlichen Strafanſpruch;
die thatſächliche Strafloſigkeit des Schuldigen wird vom po-
ſitiven Rechte zum Strafaufhebungsgrunde geſtempelt. Selbſt
eine rechtskräftig gewordene gerichtliche Anerkennung des
ſtaatlichen Strafanſpruches hemmt wohl, hindert aber nicht
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Verfolgungsverjährung (Verjährung der actio ex delicto)
auch die Vollſtreckungsverjährung (Verjährung der actio
judicati
).

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[224/0250] Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs. Eine Rechtsfolge ohne rechtſchaffende und als ſolche vom objektiven Rechte anerkannte Thatſache iſt keine Rechtsfolge. Aber die Macht der Thatſachen ſpottet nur zu oft der Im- perative des Rechts; ſie ſetzt ſich ſelbſt die Folgen, die das Recht ihr nicht gewähren will; und ſie findet in der Achtung, die allem Beſtehenden entgegengetragen wird, einen Erſatz für die mangelnde Sanktion des objektiven Rechts. Dieſen Zwieſpalt zwiſchen Recht und Thatſachen kann das Recht nur dadurch beſeitigen, daß es die Thatſachen zu Recht an- erkennt, die von ihnen erzeugten Folgen zu Rechtsfolgen erhebt. Das iſt der Grundgedanke aller Verjährung. Nicht die Zeit ſchafft das Recht: aber das Recht ſelbſt leiht ſeine Sanktion den Thatſachen, die eine gewiſſe Zeit hindurch ſich zu behaupten ſtark genug waren. Sekundäre Geſichts- punkte, insbeſondere die Schwierigkeiten, die der Feſtſtellung des Sachverhaltes in den Weg treten, wenn ein längerer Zeitraum ſeit ſeinem Entſtehen verfloſſen iſt, fördern die all- gemeine Anerkennung und umfaſſende Wirkung des Rechts- inſtituts der Verjährung, in welchem der Bruch des Rechts durch die Thatſachen rechtliche Geſtalt und Bedeutung gewinnt. So tilgt die Zeit auch den ſtaatlichen Strafanſpruch; die thatſächliche Strafloſigkeit des Schuldigen wird vom po- ſitiven Rechte zum Strafaufhebungsgrunde geſtempelt. Selbſt eine rechtskräftig gewordene gerichtliche Anerkennung des ſtaatlichen Strafanſpruches hemmt wohl, hindert aber nicht ſeinen Untergang. Das moderne Recht kennt neben der Verfolgungsverjährung (Verjährung der actio ex delicto) auch die Vollſtreckungsverjährung (Verjährung der actio judicati).

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/250>, abgerufen am 23.04.2024.