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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Entwicklung des Versuchsbegriffes. §. 32.

Wir können folgende Fälle unterscheiden:2

a) die körperliche Bewegung hat begonnen, ist aber
noch nicht abgeschlossen; ich bin im Begriffe, den nach New-
York bestimmten beleidigenden Brief in den Briefkasten zu
werfen; ich habe die das Beil führende Hand zum Schlage
erhoben usw.

b) die Bewegung ist beendet, der Kausalismus, dem
sie den Anstoß gegeben, ist im Laufen begriffen: mein
Brief ist auf dem Postdampfer unterwegs nach Amerika; der
zu fällende Baum hat den letzten Schlag erhalten und be-
ginnt langsam zu sinken.

c) Die Kausalreihe ist abgelaufen, ohne das
vorgestellte Objekt zu treffen
: der Postdampfer ist mit
der ganzen Ladung gescheitert, der Baum ist gestürzt, aber
hart neben dem auf dem Rasen schlafenden B.

d) Die Kausalreihe hat ablaufend das Objekt erreicht,
aber noch ist der vorgestellte Erfolg nicht eingetreten: mein
Brief liegt im Hause des Adressaten, der auf einige Tage
verreist, erst in mehreren Stunden eintreffen soll: der schla-
fende B ist getroffen, tötlich verletzt, aber er lebt noch.

e) Der Erfolg, hier die Rechtsgüterverletzung -- Belei-
digung, Tötung -- ist eingetreten: Zeitpunkt der Voll-
endung
.

Die Vollendung des Verbrechens kann unterbleiben:
ad a, wenn die Bewegung gehemmt wird; ad b, wenn die

2 [Spaltenumbruch] Der Einfachheit wegen habe
ich Beispiele gewählt, bei wel-
chen Vollendung des Verbrechens
und Vollendung der Rechts-
güterverletzung sich decken. Es
bedarf aber wohl nur eines Hin-
blickes auf den unten §. 36 I[Spaltenumbruch] erörterten Begriff der fingierten
Thäterschaft, um sich zu über-
zeugen, daß bei jedem Ver-
brechen unter Umständen diese
Stadien auseinanderfallen kön-
nen.
Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.

Wir können folgende Fälle unterſcheiden:2

a) die körperliche Bewegung hat begonnen, iſt aber
noch nicht abgeſchloſſen; ich bin im Begriffe, den nach New-
York beſtimmten beleidigenden Brief in den Briefkaſten zu
werfen; ich habe die das Beil führende Hand zum Schlage
erhoben uſw.

b) die Bewegung iſt beendet, der Kauſalismus, dem
ſie den Anſtoß gegeben, iſt im Laufen begriffen: mein
Brief iſt auf dem Poſtdampfer unterwegs nach Amerika; der
zu fällende Baum hat den letzten Schlag erhalten und be-
ginnt langſam zu ſinken.

c) Die Kauſalreihe iſt abgelaufen, ohne das
vorgeſtellte Objekt zu treffen
: der Poſtdampfer iſt mit
der ganzen Ladung geſcheitert, der Baum iſt geſtürzt, aber
hart neben dem auf dem Raſen ſchlafenden B.

d) Die Kauſalreihe hat ablaufend das Objekt erreicht,
aber noch iſt der vorgeſtellte Erfolg nicht eingetreten: mein
Brief liegt im Hauſe des Adreſſaten, der auf einige Tage
verreiſt, erſt in mehreren Stunden eintreffen ſoll: der ſchla-
fende B iſt getroffen, tötlich verletzt, aber er lebt noch.

e) Der Erfolg, hier die Rechtsgüterverletzung — Belei-
digung, Tötung — iſt eingetreten: Zeitpunkt der Voll-
endung
.

Die Vollendung des Verbrechens kann unterbleiben:
ad a, wenn die Bewegung gehemmt wird; ad b, wenn die

2 [Spaltenumbruch] Der Einfachheit wegen habe
ich Beiſpiele gewählt, bei wel-
chen Vollendung des Verbrechens
und Vollendung der Rechts-
güterverletzung ſich decken. Es
bedarf aber wohl nur eines Hin-
blickes auf den unten §. 36 I[Spaltenumbruch] erörterten Begriff der fingierten
Thäterſchaft, um ſich zu über-
zeugen, daß bei jedem Ver-
brechen unter Umſtänden dieſe
Stadien auseinanderfallen kön-
nen.
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[133/0159] Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32. Wir können folgende Fälle unterſcheiden: 2 a) die körperliche Bewegung hat begonnen, iſt aber noch nicht abgeſchloſſen; ich bin im Begriffe, den nach New- York beſtimmten beleidigenden Brief in den Briefkaſten zu werfen; ich habe die das Beil führende Hand zum Schlage erhoben uſw. b) die Bewegung iſt beendet, der Kauſalismus, dem ſie den Anſtoß gegeben, iſt im Laufen begriffen: mein Brief iſt auf dem Poſtdampfer unterwegs nach Amerika; der zu fällende Baum hat den letzten Schlag erhalten und be- ginnt langſam zu ſinken. c) Die Kauſalreihe iſt abgelaufen, ohne das vorgeſtellte Objekt zu treffen: der Poſtdampfer iſt mit der ganzen Ladung geſcheitert, der Baum iſt geſtürzt, aber hart neben dem auf dem Raſen ſchlafenden B. d) Die Kauſalreihe hat ablaufend das Objekt erreicht, aber noch iſt der vorgeſtellte Erfolg nicht eingetreten: mein Brief liegt im Hauſe des Adreſſaten, der auf einige Tage verreiſt, erſt in mehreren Stunden eintreffen ſoll: der ſchla- fende B iſt getroffen, tötlich verletzt, aber er lebt noch. e) Der Erfolg, hier die Rechtsgüterverletzung — Belei- digung, Tötung — iſt eingetreten: Zeitpunkt der Voll- endung. Die Vollendung des Verbrechens kann unterbleiben: ad a, wenn die Bewegung gehemmt wird; ad b, wenn die 2 Der Einfachheit wegen habe ich Beiſpiele gewählt, bei wel- chen Vollendung des Verbrechens und Vollendung der Rechts- güterverletzung ſich decken. Es bedarf aber wohl nur eines Hin- blickes auf den unten §. 36 I erörterten Begriff der fingierten Thäterſchaft, um ſich zu über- zeugen, daß bei jedem Ver- brechen unter Umſtänden dieſe Stadien auseinanderfallen kön- nen.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/159>, abgerufen am 16.04.2024.