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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Erst. Buch. IV. Das Verbr. als schuldh. rechtswidr. Handl.
Unachtsamkeit kommt als strafrechtliche Fahrlässigkeit nur
dann in Betracht, wenn sie die Ursache eines weiteren rechts-
widrigen Erfolges wurde, wenn also z. B. die vernachlässigten
Pferde ausgerissen sind und ein Kind beschädigt haben. Das
Maß der anzuwendenden Sorgfalt bestimmt sich dabei ledig-
lich nach der objektiven Natur der vorgenommenen Hand-
lung, nicht aber nach dem Charakter des Handelnden.

2. Der eingetretene Erfolg muß ein für den unvorsichtig
Handelnden vorhersehbarer gewesen sein. Genauer: es
muß dem Handelnden möglich gewesen sein, die Vorstellung
von der Kausalität seines Thun's zu gewinnen. Bei der
Beurteilung dieser Frage sind die geistigen Fähigkeiten des
Handelnden, sein größerer oder geringerer Scharfblick zu
Grunde zu legen. Also nicht unachtsames Verhalten mit
rechtswidrigem Erfolg, sondern solches Verhalten mit indi-
viduell vorhersehbarem rechtswidrigem Erfolge bildet das
Wesen der Fahrlässigkeit im heutigen Rechte.

3. Immer aber muß das fahrlässige Delikt Handlung
(mit Einschluß der sog. Unterlassungen; vgl. oben §. 21) d. h.
willkürliche körperliche Bewegung sein, zurückgeführt werden
können auf den Willen, als den die motorischen Nerven
unmittelbar erregenden psychischen Akt. Nur ist zu beachten,
daß gerade bei dem fahrlässigen Delikte die Handlung (im
engeren Sinne) und der Erfolg zeitlich und räumlich weit
ab von einander liegen können; z. B. der in Belgien 1879
erzeugte und nach Berlin verkaufte Dampfkessel explodiert
daselbst im Jahre 1881 in Folge schleuderhafter Konstruktion
der Sicherheitsventile. Für die Frage nach der Schuld des
Thäters ist hier wie immer (oben §. 27 III) der Augenblick
der körperlichen Bewegung maßgebend; Zeit und Ort der
Begehung des Deliktes
richtet sich nach den allgemeinen

Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
Unachtſamkeit kommt als ſtrafrechtliche Fahrläſſigkeit nur
dann in Betracht, wenn ſie die Urſache eines weiteren rechts-
widrigen Erfolges wurde, wenn alſo z. B. die vernachläſſigten
Pferde ausgeriſſen ſind und ein Kind beſchädigt haben. Das
Maß der anzuwendenden Sorgfalt beſtimmt ſich dabei ledig-
lich nach der objektiven Natur der vorgenommenen Hand-
lung, nicht aber nach dem Charakter des Handelnden.

2. Der eingetretene Erfolg muß ein für den unvorſichtig
Handelnden vorherſehbarer geweſen ſein. Genauer: es
muß dem Handelnden möglich geweſen ſein, die Vorſtellung
von der Kauſalität ſeines Thun’s zu gewinnen. Bei der
Beurteilung dieſer Frage ſind die geiſtigen Fähigkeiten des
Handelnden, ſein größerer oder geringerer Scharfblick zu
Grunde zu legen. Alſo nicht unachtſames Verhalten mit
rechtswidrigem Erfolg, ſondern ſolches Verhalten mit indi-
viduell vorherſehbarem rechtswidrigem Erfolge bildet das
Weſen der Fahrläſſigkeit im heutigen Rechte.

3. Immer aber muß das fahrläſſige Delikt Handlung
(mit Einſchluß der ſog. Unterlaſſungen; vgl. oben §. 21) d. h.
willkürliche körperliche Bewegung ſein, zurückgeführt werden
können auf den Willen, als den die motoriſchen Nerven
unmittelbar erregenden pſychiſchen Akt. Nur iſt zu beachten,
daß gerade bei dem fahrläſſigen Delikte die Handlung (im
engeren Sinne) und der Erfolg zeitlich und räumlich weit
ab von einander liegen können; z. B. der in Belgien 1879
erzeugte und nach Berlin verkaufte Dampfkeſſel explodiert
daſelbſt im Jahre 1881 in Folge ſchleuderhafter Konſtruktion
der Sicherheitsventile. Für die Frage nach der Schuld des
Thäters iſt hier wie immer (oben §. 27 III) der Augenblick
der körperlichen Bewegung maßgebend; Zeit und Ort der
Begehung des Deliktes
richtet ſich nach den allgemeinen

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[118/0144] Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl. Unachtſamkeit kommt als ſtrafrechtliche Fahrläſſigkeit nur dann in Betracht, wenn ſie die Urſache eines weiteren rechts- widrigen Erfolges wurde, wenn alſo z. B. die vernachläſſigten Pferde ausgeriſſen ſind und ein Kind beſchädigt haben. Das Maß der anzuwendenden Sorgfalt beſtimmt ſich dabei ledig- lich nach der objektiven Natur der vorgenommenen Hand- lung, nicht aber nach dem Charakter des Handelnden. 2. Der eingetretene Erfolg muß ein für den unvorſichtig Handelnden vorherſehbarer geweſen ſein. Genauer: es muß dem Handelnden möglich geweſen ſein, die Vorſtellung von der Kauſalität ſeines Thun’s zu gewinnen. Bei der Beurteilung dieſer Frage ſind die geiſtigen Fähigkeiten des Handelnden, ſein größerer oder geringerer Scharfblick zu Grunde zu legen. Alſo nicht unachtſames Verhalten mit rechtswidrigem Erfolg, ſondern ſolches Verhalten mit indi- viduell vorherſehbarem rechtswidrigem Erfolge bildet das Weſen der Fahrläſſigkeit im heutigen Rechte. 3. Immer aber muß das fahrläſſige Delikt Handlung (mit Einſchluß der ſog. Unterlaſſungen; vgl. oben §. 21) d. h. willkürliche körperliche Bewegung ſein, zurückgeführt werden können auf den Willen, als den die motoriſchen Nerven unmittelbar erregenden pſychiſchen Akt. Nur iſt zu beachten, daß gerade bei dem fahrläſſigen Delikte die Handlung (im engeren Sinne) und der Erfolg zeitlich und räumlich weit ab von einander liegen können; z. B. der in Belgien 1879 erzeugte und nach Berlin verkaufte Dampfkeſſel explodiert daſelbſt im Jahre 1881 in Folge ſchleuderhafter Konſtruktion der Sicherheitsventile. Für die Frage nach der Schuld des Thäters iſt hier wie immer (oben §. 27 III) der Augenblick der körperlichen Bewegung maßgebend; Zeit und Ort der Begehung des Deliktes richtet ſich nach den allgemeinen

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/144>, abgerufen am 25.04.2024.