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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Erst. Buch. IV. Das Verbr. als schuldh. rechtswidr. Handl.
baren Folgen der Handlung; die entfernteren mittelbaren
Folgen brauchen regelmäßig nicht vorgestellt zu werden.
Die Vorstellung dieser entfernteren Folgen wird auch wohl
Absicht8 genannt (3. Bedeutung des Wortes). Sie ist
mittelbarer Vorsatz, also nicht notwendig treibendes Motiv.
Wo sie von dem Gesetzgeber bei einzelnen Delikten zum
Thatbestandsmerkmal (man denke an die Zueignungsabsicht
beim Diebstahl; die Absicht, sich oder einem Dritten einen
Vermögensvorteil zu verschaffen, beim Betrug usw.) oder
zum straferhöhenden Umstande gemacht wird, geht sie in dem
Vorsatz auf, d. h. es müssen einerseits in diesem Falle auch
die weiteren Folgen vorgestellt sein, und es genügt andrer-
seits das Vorhandensein dieser Vorstellung.

IV. Die Vorstellung von den durch die Handlung
zu verursachenden Veränderungen und diese Veränderungen
selbst müssen sich decken; "nicht wie zwei kongruente Dreiecke"
(Binding), aber in allen wesentlichen Punkten. Decken
sie sich in einem wesentlichen Punkte nicht, so liegt bezüglich
dieses Punktes Vorsatz nicht vor. Irrtum9 bezüglich
eines wesentlichen Punktes schließt also den Vor-
satz aus
.10 Welche Punkte sind aber wesentliche in der
den strafrechtlichen Vorsatz begleitenden Vorstellung?

Ehe wir diese Frage beantworten, müssen wir die Vorfrage
erledigen: auf welche Punkte muß sich überhaupt die Vorstellung
erstrecken, um als individualisierte Vorstellung in Betracht zu

8 [Spaltenumbruch] Ueber die verschiedene Be-
deutung des Wortes Absicht
vgl. auch Binding Normen I
Note 873.
9 [Spaltenumbruch] Lit. über den Einfluß des
Irrtums bei Binding Grund-[Spaltenumbruch] riß S. 62. Vgl. auch Zitel-
mann
Irrtum u. Rechtsgeschäft
1879.
10 [Spaltenumbruch] Fahrlässigkeit kann jedoch
gerade wegen des Irrtums vor-
liegen.

Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
baren Folgen der Handlung; die entfernteren mittelbaren
Folgen brauchen regelmäßig nicht vorgeſtellt zu werden.
Die Vorſtellung dieſer entfernteren Folgen wird auch wohl
Abſicht8 genannt (3. Bedeutung des Wortes). Sie iſt
mittelbarer Vorſatz, alſo nicht notwendig treibendes Motiv.
Wo ſie von dem Geſetzgeber bei einzelnen Delikten zum
Thatbeſtandsmerkmal (man denke an die Zueignungsabſicht
beim Diebſtahl; die Abſicht, ſich oder einem Dritten einen
Vermögensvorteil zu verſchaffen, beim Betrug uſw.) oder
zum ſtraferhöhenden Umſtande gemacht wird, geht ſie in dem
Vorſatz auf, d. h. es müſſen einerſeits in dieſem Falle auch
die weiteren Folgen vorgeſtellt ſein, und es genügt andrer-
ſeits das Vorhandenſein dieſer Vorſtellung.

IV. Die Vorſtellung von den durch die Handlung
zu verurſachenden Veränderungen und dieſe Veränderungen
ſelbſt müſſen ſich decken; „nicht wie zwei kongruente Dreiecke“
(Binding), aber in allen weſentlichen Punkten. Decken
ſie ſich in einem weſentlichen Punkte nicht, ſo liegt bezüglich
dieſes Punktes Vorſatz nicht vor. Irrtum9 bezüglich
eines weſentlichen Punktes ſchließt alſo den Vor-
ſatz aus
.10 Welche Punkte ſind aber weſentliche in der
den ſtrafrechtlichen Vorſatz begleitenden Vorſtellung?

Ehe wir dieſe Frage beantworten, müſſen wir die Vorfrage
erledigen: auf welche Punkte muß ſich überhaupt die Vorſtellung
erſtrecken, um als individualiſierte Vorſtellung in Betracht zu

8 [Spaltenumbruch] Ueber die verſchiedene Be-
deutung des Wortes Abſicht
vgl. auch Binding Normen I
Note 873.
9 [Spaltenumbruch] Lit. über den Einfluß des
Irrtums bei Binding Grund-[Spaltenumbruch] riß S. 62. Vgl. auch Zitel-
mann
Irrtum u. Rechtsgeſchäft
1879.
10 [Spaltenumbruch] Fahrläſſigkeit kann jedoch
gerade wegen des Irrtums vor-
liegen.
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[112/0138] Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl. baren Folgen der Handlung; die entfernteren mittelbaren Folgen brauchen regelmäßig nicht vorgeſtellt zu werden. Die Vorſtellung dieſer entfernteren Folgen wird auch wohl Abſicht 8 genannt (3. Bedeutung des Wortes). Sie iſt mittelbarer Vorſatz, alſo nicht notwendig treibendes Motiv. Wo ſie von dem Geſetzgeber bei einzelnen Delikten zum Thatbeſtandsmerkmal (man denke an die Zueignungsabſicht beim Diebſtahl; die Abſicht, ſich oder einem Dritten einen Vermögensvorteil zu verſchaffen, beim Betrug uſw.) oder zum ſtraferhöhenden Umſtande gemacht wird, geht ſie in dem Vorſatz auf, d. h. es müſſen einerſeits in dieſem Falle auch die weiteren Folgen vorgeſtellt ſein, und es genügt andrer- ſeits das Vorhandenſein dieſer Vorſtellung. IV. Die Vorſtellung von den durch die Handlung zu verurſachenden Veränderungen und dieſe Veränderungen ſelbſt müſſen ſich decken; „nicht wie zwei kongruente Dreiecke“ (Binding), aber in allen weſentlichen Punkten. Decken ſie ſich in einem weſentlichen Punkte nicht, ſo liegt bezüglich dieſes Punktes Vorſatz nicht vor. Irrtum 9 bezüglich eines weſentlichen Punktes ſchließt alſo den Vor- ſatz aus. 10 Welche Punkte ſind aber weſentliche in der den ſtrafrechtlichen Vorſatz begleitenden Vorſtellung? Ehe wir dieſe Frage beantworten, müſſen wir die Vorfrage erledigen: auf welche Punkte muß ſich überhaupt die Vorſtellung erſtrecken, um als individualiſierte Vorſtellung in Betracht zu 8 Ueber die verſchiedene Be- deutung des Wortes Abſicht vgl. auch Binding Normen I Note 873. 9 Lit. über den Einfluß des Irrtums bei Binding Grund- riß S. 62. Vgl. auch Zitel- mann Irrtum u. Rechtsgeſchäft 1879. 10 Fahrläſſigkeit kann jedoch gerade wegen des Irrtums vor- liegen.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/138>, abgerufen am 23.04.2024.