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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Erst. Buch. IV. Das Verbr. als schuldh. rechtswidr. Handl.
dem positiven Rechte kennen zu lernen suchen.1 Die augen-
fälligste Deliktsfolge, die Strafe, dient uns als Führer auf
diesem Wege. Die Betrachtung lehrt uns, daß jene Vor-
aussetzungen durch Vorsatz und Fahrlässigkeit erschöpft
werden; diese sind die beiden einzigen Schuldarten. Durch
eine Zusammenfassung der beiden Begriffe würde, wenn eine
solche möglich wäre, der gemeinschaftliche höhere Begriff der
Schuld entstehen. Die genauere Untersuchung zeigt jedoch
die Unmöglichkeit einer solchen Zusammenfassung. Beim
Vorsatz (s. unten §. 28 I) liegt das Schuldmoment, d. h.
jener Umstand, welcher die Deliktsfolgen nach sich zieht, ledig-
lich in der objektiven Normwidrigkeit der Handlung; bei der
Fahrlässigkeit dagegen in der pflichtwidrigen Nichtanwen-
dung der anzuwendenden Sorgfalt. Der Vorsatz als solcher
ist noch nicht Schuld, sondern findet sich in gleicher Weise
bei dem normgemäßen wie bei dem normwidrigen Handeln;
die Fahrlässigkeit dagegen ist an sich schon Schuld (wenn
auch nicht immer strafbare Schuld), und ist auf anderem
Gebiete als dem des normwidrigen Handelns gar nicht denk-
bar. Beide Artbegriffe haben nichts gemein als ihre Wir-
kung; daher kann der Gattungsbegriff auch nur nach dieser
bestimmt werden.2

II. Wir haben Vorsatz und Fahrlässigkeit als die beiden

1 [Spaltenumbruch] Strengstes Festhalten an
der induktiven Methode ist un-
bedingt notwendig, wollen wir
die Grundbegriffe der juristischen
Wissenschaft dem Auf- und Ab-
wogen subjektiver Anschauungen
entziehen.
2 [Spaltenumbruch] Anders die herrschende An-
sicht. Doch beweist mir insbe-[Spaltenumbruch] sondere Binding's Schuld-
lehre in den "Normen", daß
der Versuch, zuerst den Begriff
der Schuld und dann aus die-
sem den der Schuldarten zu be-
stimmen (statt umgekehrt) schei-
tern muß, sobald er konsequent
durchgeführt wird.

Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
dem poſitiven Rechte kennen zu lernen ſuchen.1 Die augen-
fälligſte Deliktsfolge, die Strafe, dient uns als Führer auf
dieſem Wege. Die Betrachtung lehrt uns, daß jene Vor-
ausſetzungen durch Vorſatz und Fahrläſſigkeit erſchöpft
werden; dieſe ſind die beiden einzigen Schuldarten. Durch
eine Zuſammenfaſſung der beiden Begriffe würde, wenn eine
ſolche möglich wäre, der gemeinſchaftliche höhere Begriff der
Schuld entſtehen. Die genauere Unterſuchung zeigt jedoch
die Unmöglichkeit einer ſolchen Zuſammenfaſſung. Beim
Vorſatz (ſ. unten §. 28 I) liegt das Schuldmoment, d. h.
jener Umſtand, welcher die Deliktsfolgen nach ſich zieht, ledig-
lich in der objektiven Normwidrigkeit der Handlung; bei der
Fahrläſſigkeit dagegen in der pflichtwidrigen Nichtanwen-
dung der anzuwendenden Sorgfalt. Der Vorſatz als ſolcher
iſt noch nicht Schuld, ſondern findet ſich in gleicher Weiſe
bei dem normgemäßen wie bei dem normwidrigen Handeln;
die Fahrläſſigkeit dagegen iſt an ſich ſchon Schuld (wenn
auch nicht immer ſtrafbare Schuld), und iſt auf anderem
Gebiete als dem des normwidrigen Handelns gar nicht denk-
bar. Beide Artbegriffe haben nichts gemein als ihre Wir-
kung; daher kann der Gattungsbegriff auch nur nach dieſer
beſtimmt werden.2

II. Wir haben Vorſatz und Fahrläſſigkeit als die beiden

1 [Spaltenumbruch] Strengſtes Feſthalten an
der induktiven Methode iſt un-
bedingt notwendig, wollen wir
die Grundbegriffe der juriſtiſchen
Wiſſenſchaft dem Auf- und Ab-
wogen ſubjektiver Anſchauungen
entziehen.
2 [Spaltenumbruch] Anders die herrſchende An-
ſicht. Doch beweiſt mir insbe-[Spaltenumbruch] ſondere Binding’s Schuld-
lehre in den „Normen“, daß
der Verſuch, zuerſt den Begriff
der Schuld und dann aus die-
ſem den der Schuldarten zu be-
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[106/0132] Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl. dem poſitiven Rechte kennen zu lernen ſuchen. 1 Die augen- fälligſte Deliktsfolge, die Strafe, dient uns als Führer auf dieſem Wege. Die Betrachtung lehrt uns, daß jene Vor- ausſetzungen durch Vorſatz und Fahrläſſigkeit erſchöpft werden; dieſe ſind die beiden einzigen Schuldarten. Durch eine Zuſammenfaſſung der beiden Begriffe würde, wenn eine ſolche möglich wäre, der gemeinſchaftliche höhere Begriff der Schuld entſtehen. Die genauere Unterſuchung zeigt jedoch die Unmöglichkeit einer ſolchen Zuſammenfaſſung. Beim Vorſatz (ſ. unten §. 28 I) liegt das Schuldmoment, d. h. jener Umſtand, welcher die Deliktsfolgen nach ſich zieht, ledig- lich in der objektiven Normwidrigkeit der Handlung; bei der Fahrläſſigkeit dagegen in der pflichtwidrigen Nichtanwen- dung der anzuwendenden Sorgfalt. Der Vorſatz als ſolcher iſt noch nicht Schuld, ſondern findet ſich in gleicher Weiſe bei dem normgemäßen wie bei dem normwidrigen Handeln; die Fahrläſſigkeit dagegen iſt an ſich ſchon Schuld (wenn auch nicht immer ſtrafbare Schuld), und iſt auf anderem Gebiete als dem des normwidrigen Handelns gar nicht denk- bar. Beide Artbegriffe haben nichts gemein als ihre Wir- kung; daher kann der Gattungsbegriff auch nur nach dieſer beſtimmt werden. 2 II. Wir haben Vorſatz und Fahrläſſigkeit als die beiden 1 Strengſtes Feſthalten an der induktiven Methode iſt un- bedingt notwendig, wollen wir die Grundbegriffe der juriſtiſchen Wiſſenſchaft dem Auf- und Ab- wogen ſubjektiver Anſchauungen entziehen. 2 Anders die herrſchende An- ſicht. Doch beweiſt mir insbe- ſondere Binding’s Schuld- lehre in den „Normen“, daß der Verſuch, zuerſt den Begriff der Schuld und dann aus die- ſem den der Schuldarten zu be- ſtimmen (ſtatt umgekehrt) ſchei- tern muß, ſobald er konſequent durchgeführt wird.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/132>, abgerufen am 28.03.2024.