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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Die Zurechnungsfähigkeit. §. 25.
sehen, den Begriff der Zurechnungsfähigkeit festzustellen;
sie hat die Lösung dieser Aufgabe den Bemühungen der ju-
ristischen und psychologischen Wissenschaft überlassen und
sich damit begnügt, dieser und der Praxis einzelne leitende
Gesichtspunkte an die Hand zu geben. Sie erschöpft den
Begriff der Zurechnungsfähigkeit nicht und will ihn nicht
erschöpfen, wenn sie hier (StGB. §. 51) die "freie Willens-
bestimmung" und dort (StGB. §§. 56--58) die "zur Er-
kenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht" hervorhebt.
Sie konnte das um so leichter thun, als Zurechnungsfähig-
keit der normale Zustand ist.

III. Innerhalb der Zurechnungsfähigkeit, also
nach Ausschluß des ganzen Gebietes der Zurechnungsunfähig-
keit, sind unendliche Abstufungen, wie innerhalb der
körperlichen Gesundheit, von dem eben noch hinreichenden
Minimum bis zur höchsten erreichbaren Vollkommenheit mög-
lich. Es fragt sich nun: soll der Gesetzgeber diese Abstu-
fungen berücksichtigen, wenn er die Straffolgen an den straf-
baren Thatbestand anknüpft? Das Minimum liegt ja tief
unter dem Durchschnittsmaße der geistigen Befähigung, und
dieses noch viel tiefer unter dem Maximum; soll der Gesetz-
geber vielleicht einen doppelten Strafrahmen aufstellen, den
einen für die unterdurchschnittliche, den anderen für die
überdurchschnittliche Zurechnungsfähigkeit? Man hat die
Frage verwirrt, indem man die über das Minimum sich er-
hebende, aber unter dem Durchschnittsniveau zurückbleibende
Zurechnungsfähigkeit als verminderte Zurechnungsfähigkeit7
bezeichnete, und dadurch vielfach den Glauben erweckte, als
handle es sich um einen Geisteszustand, der weniger sei als

7 Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 326.
von Liszt, Strafrecht. 7

Die Zurechnungsfähigkeit. §. 25.
ſehen, den Begriff der Zurechnungsfähigkeit feſtzuſtellen;
ſie hat die Löſung dieſer Aufgabe den Bemühungen der ju-
riſtiſchen und pſychologiſchen Wiſſenſchaft überlaſſen und
ſich damit begnügt, dieſer und der Praxis einzelne leitende
Geſichtspunkte an die Hand zu geben. Sie erſchöpft den
Begriff der Zurechnungsfähigkeit nicht und will ihn nicht
erſchöpfen, wenn ſie hier (StGB. §. 51) die „freie Willens-
beſtimmung“ und dort (StGB. §§. 56—58) die „zur Er-
kenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einſicht“ hervorhebt.
Sie konnte das um ſo leichter thun, als Zurechnungsfähig-
keit der normale Zuſtand iſt.

III. Innerhalb der Zurechnungsfähigkeit, alſo
nach Ausſchluß des ganzen Gebietes der Zurechnungsunfähig-
keit, ſind unendliche Abſtufungen, wie innerhalb der
körperlichen Geſundheit, von dem eben noch hinreichenden
Minimum bis zur höchſten erreichbaren Vollkommenheit mög-
lich. Es fragt ſich nun: ſoll der Geſetzgeber dieſe Abſtu-
fungen berückſichtigen, wenn er die Straffolgen an den ſtraf-
baren Thatbeſtand anknüpft? Das Minimum liegt ja tief
unter dem Durchſchnittsmaße der geiſtigen Befähigung, und
dieſes noch viel tiefer unter dem Maximum; ſoll der Geſetz-
geber vielleicht einen doppelten Strafrahmen aufſtellen, den
einen für die unterdurchſchnittliche, den anderen für die
überdurchſchnittliche Zurechnungsfähigkeit? Man hat die
Frage verwirrt, indem man die über das Minimum ſich er-
hebende, aber unter dem Durchſchnittsniveau zurückbleibende
Zurechnungsfähigkeit als verminderte Zurechnungsfähigkeit7
bezeichnete, und dadurch vielfach den Glauben erweckte, als
handle es ſich um einen Geiſteszuſtand, der weniger ſei als

7 Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 326.
von Liszt, Strafrecht. 7
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[97/0123] Die Zurechnungsfähigkeit. §. 25. ſehen, den Begriff der Zurechnungsfähigkeit feſtzuſtellen; ſie hat die Löſung dieſer Aufgabe den Bemühungen der ju- riſtiſchen und pſychologiſchen Wiſſenſchaft überlaſſen und ſich damit begnügt, dieſer und der Praxis einzelne leitende Geſichtspunkte an die Hand zu geben. Sie erſchöpft den Begriff der Zurechnungsfähigkeit nicht und will ihn nicht erſchöpfen, wenn ſie hier (StGB. §. 51) die „freie Willens- beſtimmung“ und dort (StGB. §§. 56—58) die „zur Er- kenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einſicht“ hervorhebt. Sie konnte das um ſo leichter thun, als Zurechnungsfähig- keit der normale Zuſtand iſt. III. Innerhalb der Zurechnungsfähigkeit, alſo nach Ausſchluß des ganzen Gebietes der Zurechnungsunfähig- keit, ſind unendliche Abſtufungen, wie innerhalb der körperlichen Geſundheit, von dem eben noch hinreichenden Minimum bis zur höchſten erreichbaren Vollkommenheit mög- lich. Es fragt ſich nun: ſoll der Geſetzgeber dieſe Abſtu- fungen berückſichtigen, wenn er die Straffolgen an den ſtraf- baren Thatbeſtand anknüpft? Das Minimum liegt ja tief unter dem Durchſchnittsmaße der geiſtigen Befähigung, und dieſes noch viel tiefer unter dem Maximum; ſoll der Geſetz- geber vielleicht einen doppelten Strafrahmen aufſtellen, den einen für die unterdurchſchnittliche, den anderen für die überdurchſchnittliche Zurechnungsfähigkeit? Man hat die Frage verwirrt, indem man die über das Minimum ſich er- hebende, aber unter dem Durchſchnittsniveau zurückbleibende Zurechnungsfähigkeit als verminderte Zurechnungsfähigkeit 7 bezeichnete, und dadurch vielfach den Glauben erweckte, als handle es ſich um einen Geiſteszuſtand, der weniger ſei als 7 Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 326. von Liszt, Strafrecht. 7

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/123>, abgerufen am 24.04.2024.