Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

Bild:
<< vorherige Seite

Erst. Buch. IV. Das Verbr. als schuldh. rechtswidr. Handl.
gehemmte Entwicklung vorliegt; sie fehlt dem geistig kranken
Individuum, mag es sich um vorübergehende Stö-
rungen oder länger dauernde Erkrankungen oder end-
lich um den Verfall (Degenerationszustände) der Psyche
handeln.

Die Zurechnungsfähigkeit setzt normales Zusammen-
wirken der psychischen Funktionen voraus; also nicht bloß
normale Zahl und Klarheit der Vorstellungen, sondern auch
normales Betonungsverhältnis der Vorstellungen unter-
einander, so daß sie ausgeschlossen werden kann durch anormale
Betonung einer einzelnen Vorstellung (Zwangsvorstellung).
Sie ist mit andern Worten nicht nur ein Kennen (Wissen),
sondern auch ein Können6 (Wollen).

Wie die geistige Reife auf den verschiedenen Gebieten
des rechtlich indifferenten Handelns nicht mit demselben Augen-
blicke eintritt, sondern hier längere dort kürzere Entwicklung
vorangehen muß, so wird auch die rechtliche Handlungsfähig-
keit auf den verschiedenen Rechtsgebieten (z. B. öffentliches
Recht, Civilrecht, Strafrecht) und deren Untergebieten (z. B.
Familienrecht, Erbrecht, Obligationenrecht) nicht in demselben
Lebensstadium erworben. Sie wird auch auf dem Gebiete
des Strafrechtes bei demselben Individuum in demselben
Augenblicke bald als vorhanden, bald als fehlend ange-
nommen werden müssen, je nachdem diese oder jene Gruppe
von strafbaren Handlungen in Frage steht (man denke an
Tötung einerseits, politische Delikte andrerseits).

II. Die Reichsstrafgesetzgebung hat davon abge-

6 [Spaltenumbruch] So von den Kriminalisten
inbesondere Meyer, Wahl-
berg u. Geyer
; der Psychologe
v. Volkmann, der Psychiater[Spaltenumbruch] v. Krafft-Ebing u. A. Da-
gegen die Hegelianer; auch
Schütze u. A.

Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.
gehemmte Entwicklung vorliegt; ſie fehlt dem geiſtig kranken
Individuum, mag es ſich um vorübergehende Stö-
rungen oder länger dauernde Erkrankungen oder end-
lich um den Verfall (Degenerationszuſtände) der Pſyche
handeln.

Die Zurechnungsfähigkeit ſetzt normales Zuſammen-
wirken der pſychiſchen Funktionen voraus; alſo nicht bloß
normale Zahl und Klarheit der Vorſtellungen, ſondern auch
normales Betonungsverhältnis der Vorſtellungen unter-
einander, ſo daß ſie ausgeſchloſſen werden kann durch anormale
Betonung einer einzelnen Vorſtellung (Zwangsvorſtellung).
Sie iſt mit andern Worten nicht nur ein Kennen (Wiſſen),
ſondern auch ein Können6 (Wollen).

Wie die geiſtige Reife auf den verſchiedenen Gebieten
des rechtlich indifferenten Handelns nicht mit demſelben Augen-
blicke eintritt, ſondern hier längere dort kürzere Entwicklung
vorangehen muß, ſo wird auch die rechtliche Handlungsfähig-
keit auf den verſchiedenen Rechtsgebieten (z. B. öffentliches
Recht, Civilrecht, Strafrecht) und deren Untergebieten (z. B.
Familienrecht, Erbrecht, Obligationenrecht) nicht in demſelben
Lebensſtadium erworben. Sie wird auch auf dem Gebiete
des Strafrechtes bei demſelben Individuum in demſelben
Augenblicke bald als vorhanden, bald als fehlend ange-
nommen werden müſſen, je nachdem dieſe oder jene Gruppe
von ſtrafbaren Handlungen in Frage ſteht (man denke an
Tötung einerſeits, politiſche Delikte andrerſeits).

II. Die Reichsſtrafgeſetzgebung hat davon abge-

6 [Spaltenumbruch] So von den Kriminaliſten
inbeſondere Meyer, Wahl-
berg u. Geyer
; der Pſychologe
v. Volkmann, der Pſychiater[Spaltenumbruch] v. Krafft-Ebing u. A. Da-
gegen die Hegelianer; auch
Schütze u. A.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0122" n="96"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;t. Buch. <hi rendition="#aq">IV.</hi> Das Verbr. als &#x017F;chuldh. rechtswidr. Handl.</fw><lb/><hi rendition="#g">gehemmte</hi> Entwicklung vorliegt; &#x017F;ie fehlt dem gei&#x017F;tig <hi rendition="#g">kranken</hi><lb/>
Individuum, mag es &#x017F;ich um <hi rendition="#g">vorübergehende</hi> Stö-<lb/>
rungen oder länger <hi rendition="#g">dauernde</hi> Erkrankungen oder end-<lb/>
lich um den <hi rendition="#g">Verfall</hi> (Degenerationszu&#x017F;tände) der P&#x017F;yche<lb/>
handeln.</p><lb/>
                <p>Die Zurechnungsfähigkeit &#x017F;etzt <hi rendition="#g">normales</hi> Zu&#x017F;ammen-<lb/>
wirken der p&#x017F;ychi&#x017F;chen Funktionen voraus; al&#x017F;o nicht bloß<lb/>
normale Zahl und Klarheit der Vor&#x017F;tellungen, &#x017F;ondern auch<lb/>
normales <hi rendition="#g">Betonungsverhältnis</hi> der Vor&#x017F;tellungen unter-<lb/>
einander, &#x017F;o daß &#x017F;ie ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en werden kann durch anormale<lb/>
Betonung einer einzelnen Vor&#x017F;tellung (Zwangsvor&#x017F;tellung).<lb/>
Sie i&#x017F;t mit andern Worten nicht nur ein <hi rendition="#g">Kennen</hi> (Wi&#x017F;&#x017F;en),<lb/>
&#x017F;ondern auch ein <hi rendition="#g">Können</hi><note place="foot" n="6"><cb/>
So von den Kriminali&#x017F;ten<lb/>
inbe&#x017F;ondere <hi rendition="#g">Meyer, Wahl-<lb/>
berg u. Geyer</hi>; der P&#x017F;ychologe<lb/>
v. <hi rendition="#g">Volkmann</hi>, der P&#x017F;ychiater<cb/>
v. <hi rendition="#g">Krafft-Ebing</hi> u. A. Da-<lb/>
gegen die Hegelianer; auch<lb/><hi rendition="#g">Schütze</hi> u. A.</note> (Wollen).</p><lb/>
                <p>Wie die gei&#x017F;tige Reife auf den ver&#x017F;chiedenen Gebieten<lb/>
des rechtlich indifferenten Handelns nicht mit dem&#x017F;elben Augen-<lb/>
blicke eintritt, &#x017F;ondern hier längere dort kürzere Entwicklung<lb/>
vorangehen muß, &#x017F;o wird auch die rechtliche Handlungsfähig-<lb/>
keit auf den ver&#x017F;chiedenen Rechtsgebieten (z. B. öffentliches<lb/>
Recht, Civilrecht, Strafrecht) und deren Untergebieten (z. B.<lb/>
Familienrecht, Erbrecht, Obligationenrecht) nicht in dem&#x017F;elben<lb/>
Lebens&#x017F;tadium erworben. Sie wird auch auf dem Gebiete<lb/>
des Strafrechtes bei dem&#x017F;elben Individuum in dem&#x017F;elben<lb/>
Augenblicke bald als vorhanden, bald als fehlend ange-<lb/>
nommen werden mü&#x017F;&#x017F;en, je nachdem die&#x017F;e oder jene Gruppe<lb/>
von &#x017F;trafbaren Handlungen in Frage &#x017F;teht (man denke an<lb/>
Tötung einer&#x017F;eits, politi&#x017F;che Delikte andrer&#x017F;eits).</p><lb/>
                <p><hi rendition="#aq">II.</hi> Die <hi rendition="#g">Reichs&#x017F;trafge&#x017F;etzgebung</hi> hat davon abge-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0122] Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl. gehemmte Entwicklung vorliegt; ſie fehlt dem geiſtig kranken Individuum, mag es ſich um vorübergehende Stö- rungen oder länger dauernde Erkrankungen oder end- lich um den Verfall (Degenerationszuſtände) der Pſyche handeln. Die Zurechnungsfähigkeit ſetzt normales Zuſammen- wirken der pſychiſchen Funktionen voraus; alſo nicht bloß normale Zahl und Klarheit der Vorſtellungen, ſondern auch normales Betonungsverhältnis der Vorſtellungen unter- einander, ſo daß ſie ausgeſchloſſen werden kann durch anormale Betonung einer einzelnen Vorſtellung (Zwangsvorſtellung). Sie iſt mit andern Worten nicht nur ein Kennen (Wiſſen), ſondern auch ein Können 6 (Wollen). Wie die geiſtige Reife auf den verſchiedenen Gebieten des rechtlich indifferenten Handelns nicht mit demſelben Augen- blicke eintritt, ſondern hier längere dort kürzere Entwicklung vorangehen muß, ſo wird auch die rechtliche Handlungsfähig- keit auf den verſchiedenen Rechtsgebieten (z. B. öffentliches Recht, Civilrecht, Strafrecht) und deren Untergebieten (z. B. Familienrecht, Erbrecht, Obligationenrecht) nicht in demſelben Lebensſtadium erworben. Sie wird auch auf dem Gebiete des Strafrechtes bei demſelben Individuum in demſelben Augenblicke bald als vorhanden, bald als fehlend ange- nommen werden müſſen, je nachdem dieſe oder jene Gruppe von ſtrafbaren Handlungen in Frage ſteht (man denke an Tötung einerſeits, politiſche Delikte andrerſeits). II. Die Reichsſtrafgeſetzgebung hat davon abge- 6 So von den Kriminaliſten inbeſondere Meyer, Wahl- berg u. Geyer; der Pſychologe v. Volkmann, der Pſychiater v. Krafft-Ebing u. A. Da- gegen die Hegelianer; auch Schütze u. A.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/122
Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/122>, abgerufen am 29.03.2024.