Erstes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.
§. 24. Der Notstand.1
I. Notstand ist -- wenn wir vorläufig von den Beschrän- kungen des Begriffes durch das positive Recht absehen -- ein Zustand gegenwärtiger Gefahr, aus dem es keine andere Rettung giebt, als die Uebertretung einer Norm; mag dieser Zustand durch Naturkräfte, mag er durch den Angriff eines Dritten herbeigeführt worden sein. Beispiele: Um das Wasser zum Löschen eines ausge- brochenen Brandes zu holen, eilen die Bedrohten quer über ein fremdes Saatfeld zum Flusse; der von Räubern über- fallene Postillon liefert diesen den Geldbriefbeutel aus; von zwei durch ein Seil verbundenen Bergsteigern hackt der eine, der den abgestürzten aber noch am Seile hängenden Be- gleiter nicht länger zu halten vermag, das Seil ab usw.
Wie die Notwehr, so ist auch die Notstandshandlung Rechtsgüterverletzung zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes; aber dort gerichtet gegen den Angreifenden, hier gegen einen unbeteiligten Dritten; dort Kampf für das Recht gegen das Unrecht, hier Kampf für das eigene Interesse gegen fremde gleichberechtigte, aber im Einzelfalle kollidierende Interessen.
II. Den theoretischen Begriff des Notstandes hat die Reichsgesetzgebung vielfach -- und nur zum Teile mit Recht -- eingeengt.
1. Zunächst hat das positive Recht in durchaus unge- rechtfertigter Weise den einheitlichen Begriff des Notstandes zerrissen in Nötigung (StGB. §. 52 "durch unwidersteh-
1[Spaltenumbruch]
Lit. bei Binding Grund- riß S. 156; insbesondere Ar-[Spaltenumbruch]
beiten v. Janka u. Stamm- ler. Dazu v. Buri GS. XXX.
Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.
§. 24. Der Notſtand.1
I. Notſtand iſt — wenn wir vorläufig von den Beſchrän- kungen des Begriffes durch das poſitive Recht abſehen — ein Zuſtand gegenwärtiger Gefahr, aus dem es keine andere Rettung giebt, als die Uebertretung einer Norm; mag dieſer Zuſtand durch Naturkräfte, mag er durch den Angriff eines Dritten herbeigeführt worden ſein. Beiſpiele: Um das Waſſer zum Löſchen eines ausge- brochenen Brandes zu holen, eilen die Bedrohten quer über ein fremdes Saatfeld zum Fluſſe; der von Räubern über- fallene Poſtillon liefert dieſen den Geldbriefbeutel aus; von zwei durch ein Seil verbundenen Bergſteigern hackt der eine, der den abgeſtürzten aber noch am Seile hängenden Be- gleiter nicht länger zu halten vermag, das Seil ab uſw.
Wie die Notwehr, ſo iſt auch die Notſtandshandlung Rechtsgüterverletzung zum Zwecke des Rechtsgüterſchutzes; aber dort gerichtet gegen den Angreifenden, hier gegen einen unbeteiligten Dritten; dort Kampf für das Recht gegen das Unrecht, hier Kampf für das eigene Intereſſe gegen fremde gleichberechtigte, aber im Einzelfalle kollidierende Intereſſen.
II. Den theoretiſchen Begriff des Notſtandes hat die Reichsgeſetzgebung vielfach — und nur zum Teile mit Recht — eingeengt.
1. Zunächſt hat das poſitive Recht in durchaus unge- rechtfertigter Weiſe den einheitlichen Begriff des Notſtandes zerriſſen in Nötigung (StGB. §. 52 „durch unwiderſteh-
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Lit. bei Binding Grund- riß S. 156; insbeſondere Ar-[Spaltenumbruch]
beiten v. Janka u. Stamm- ler. Dazu v. Buri GS. XXX.
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Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.
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Der Notſtand. 1
I. Notſtand iſt — wenn wir vorläufig von den Beſchrän-
kungen des Begriffes durch das poſitive Recht abſehen —
ein Zuſtand gegenwärtiger Gefahr, aus dem es
keine andere Rettung giebt, als die Uebertretung
einer Norm; mag dieſer Zuſtand durch Naturkräfte, mag
er durch den Angriff eines Dritten herbeigeführt worden
ſein. Beiſpiele: Um das Waſſer zum Löſchen eines ausge-
brochenen Brandes zu holen, eilen die Bedrohten quer über
ein fremdes Saatfeld zum Fluſſe; der von Räubern über-
fallene Poſtillon liefert dieſen den Geldbriefbeutel aus; von
zwei durch ein Seil verbundenen Bergſteigern hackt der eine,
der den abgeſtürzten aber noch am Seile hängenden Be-
gleiter nicht länger zu halten vermag, das Seil ab uſw.
Wie die Notwehr, ſo iſt auch die Notſtandshandlung
Rechtsgüterverletzung zum Zwecke des Rechtsgüterſchutzes;
aber dort gerichtet gegen den Angreifenden, hier gegen einen
unbeteiligten Dritten; dort Kampf für das Recht gegen das
Unrecht, hier Kampf für das eigene Intereſſe gegen fremde
gleichberechtigte, aber im Einzelfalle kollidierende Intereſſen.
II. Den theoretiſchen Begriff des Notſtandes hat die
Reichsgeſetzgebung vielfach — und nur zum Teile mit Recht
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1. Zunächſt hat das poſitive Recht in durchaus unge-
rechtfertigter Weiſe den einheitlichen Begriff des Notſtandes
zerriſſen in Nötigung (StGB. §. 52 „durch unwiderſteh-
1
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beiten v. Janka u. Stamm-
ler. Dazu v. Buri GS. XXX.
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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/118>, abgerufen am 28.03.2024.
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