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Lischnewska, Maria: Die deutsche Frauenstimmrechtsbewegung zwischen Krieg und Frieden. Berlin, 1915.

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überlassen." Diese Auffassungen dürften durch die harten Er-
fahrungen des Kriegsjahrs einen gründlichen Wandel erfahren
haben. Auch die Frauen haben jetzt nach außen blicken ge-
lernt, sie erkennen Gesinnung und Machtmittel der Feinde, zugleich
auch die tausend Fäden, die jeden Kulturstaat mit den anderen
verbinden, und sie wissen nun auch, daß Deutschland sich durch-
ringt zur Vorherrschaft in Europa, ja zur ersten Kulturmacht der
Welt. Hier müßten die Stimmrechtsvereine anknüpfen und für
gründliche Orientierung in der Auslandpolitik sorgen. Jch meine
dabei nicht, daß Männer diese Vorträge halten müssen. Schon
die Geldfrage macht das unmöglich. Die Stimmrechtlerinnen
können und sollen sich selbst helfen. Die politische Literatur über
Ausland-Fragen hat in dieser Zeit eine große Bereicherung er-
fahren, die glänzendsten Köpfe und bedeutendsten Gelehrten haben
historisch-politische und wirtschaftspolitische Studien von bleibendem
Wert veröffentlicht. All dieses Material ist zu Preisen zu haben,
die es jedem zugängig machen. Eine denkende Frau kann sich also
ohne große Schwierigkeiten sicher orientieren. Die Aufgabe der
Vorstände wäre nur, die Arbeit so zu verteilen, daß sich für jedes
Gebiet, d. h. mindestens für jede Großmacht, möglichst 2 bis 3 gut
geschulte Vertreterinnen heranbilden. Das läßt sich in einigen
Jahren wohl erreichen. Die Früchte aber treten sofort zutage,
denn man hat nun Referentinnen für politische Diskussionsabende.
Daß der Vorstand für das nötige Kartenmaterial sorgt, ist un-
erläßlich. Wer aber fürchtet, daß auf diesem Wege nur ein
schülerhafter Dilettantismus herauskommt, irrt sehr. Auch in die
deutsche Familie sind endlich die politischen Diskussionen ein-
gezogen, Mann, Frau, Kinder, alles liest die Zeitungen mit
brennendem Jnteresse. Die Stimmrechtlerinnen lesen verschiedene
Tageszeitungen, eine politische Bibliothek des Vereins könnte die
Arbeit unterstützen, und so wird sich bald ein reifes und begründetes
Urteil heranbilden.

Jch habe das Studium der Auslandpolitik an die Spitze
gestellt, weil es auf diesem Gebiete gar zu jämmerlich aussieht.
Selbstverständlich bin ich der Ansicht, daß auch auf dem Boden der
inneren Politik noch Unendliches zu tun ist. Was wissen die
Stimmrechtlerinnen von Schulpolitik, Agrarpolitik, Steuerpolitik,
dem Staatseisenbahnwesen, Polenpolitik, Bergwesen, Stand des
inneren und äußeren Marktes, Handelsverträgen, Kolonialpolitik,
Geschichte unserer Flotte? Kaum einige Brocken sind ihnen zu-
geflogen. Nur sehr wenige lesen während der parlamentarischen

überlassen.‟ Diese Auffassungen dürften durch die harten Er-
fahrungen des Kriegsjahrs einen gründlichen Wandel erfahren
haben. Auch die Frauen haben jetzt nach außen blicken ge-
lernt, sie erkennen Gesinnung und Machtmittel der Feinde, zugleich
auch die tausend Fäden, die jeden Kulturstaat mit den anderen
verbinden, und sie wissen nun auch, daß Deutschland sich durch-
ringt zur Vorherrschaft in Europa, ja zur ersten Kulturmacht der
Welt. Hier müßten die Stimmrechtsvereine anknüpfen und für
gründliche Orientierung in der Auslandpolitik sorgen. Jch meine
dabei nicht, daß Männer diese Vorträge halten müssen. Schon
die Geldfrage macht das unmöglich. Die Stimmrechtlerinnen
können und sollen sich selbst helfen. Die politische Literatur über
Ausland-Fragen hat in dieser Zeit eine große Bereicherung er-
fahren, die glänzendsten Köpfe und bedeutendsten Gelehrten haben
historisch-politische und wirtschaftspolitische Studien von bleibendem
Wert veröffentlicht. All dieses Material ist zu Preisen zu haben,
die es jedem zugängig machen. Eine denkende Frau kann sich also
ohne große Schwierigkeiten sicher orientieren. Die Aufgabe der
Vorstände wäre nur, die Arbeit so zu verteilen, daß sich für jedes
Gebiet, d. h. mindestens für jede Großmacht, möglichst 2 bis 3 gut
geschulte Vertreterinnen heranbilden. Das läßt sich in einigen
Jahren wohl erreichen. Die Früchte aber treten sofort zutage,
denn man hat nun Referentinnen für politische Diskussionsabende.
Daß der Vorstand für das nötige Kartenmaterial sorgt, ist un-
erläßlich. Wer aber fürchtet, daß auf diesem Wege nur ein
schülerhafter Dilettantismus herauskommt, irrt sehr. Auch in die
deutsche Familie sind endlich die politischen Diskussionen ein-
gezogen, Mann, Frau, Kinder, alles liest die Zeitungen mit
brennendem Jnteresse. Die Stimmrechtlerinnen lesen verschiedene
Tageszeitungen, eine politische Bibliothek des Vereins könnte die
Arbeit unterstützen, und so wird sich bald ein reifes und begründetes
Urteil heranbilden.

Jch habe das Studium der Auslandpolitik an die Spitze
gestellt, weil es auf diesem Gebiete gar zu jämmerlich aussieht.
Selbstverständlich bin ich der Ansicht, daß auch auf dem Boden der
inneren Politik noch Unendliches zu tun ist. Was wissen die
Stimmrechtlerinnen von Schulpolitik, Agrarpolitik, Steuerpolitik,
dem Staatseisenbahnwesen, Polenpolitik, Bergwesen, Stand des
inneren und äußeren Marktes, Handelsverträgen, Kolonialpolitik,
Geschichte unserer Flotte? Kaum einige Brocken sind ihnen zu-
geflogen. Nur sehr wenige lesen während der parlamentarischen

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-05-11T12:53:44Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-05-11T12:53:44Z)

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Lischnewska, Maria: Die deutsche Frauenstimmrechtsbewegung zwischen Krieg und Frieden. Berlin, 1915, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lischnewska_frauenstimmrechtsbewegung_1915/41>, abgerufen am 29.03.2024.