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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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sollte, in den "welthistorischen" Kürassierstiefel zu schieben. Schon tauchen
dahin zielende Aeußerungen auf. Gegenüber solchen Versuchen ist auf
die Erklärung des englischen Ministeriums hinzuweisen -- und auf die
Gesammthaltung der deutschen Reichsregierung in der orientalischen
Frage.

Die Haltung Oesterreichs ist bis zum letzten Moment eine schwan-
kende geblieben. Es hat zwischen deutsch-russischen und englischen Ein-
flüssen hin und her geschwankt wie ein Schilfrohr, und bietet uns jetzt,
in der Stunde der Entscheidung auch über Oesterreichs Schicksal,
das groteske Schauspiel einer Kabinetskrise wegen -- des Kaffee-
zolls!
Der Tag ist nicht fern, wo man in der Kaiserburg zu Wien
einsehen wird, daß die Zertrümmerung der Türkei zugleich die Zer-
trümmerung Oesterreichs bedeutet, daß der Schwertstreich oder Feder-
strich, der das Osmanenreich aus der Welt schafft, auch dem Habs-
burgerreich den Tod gibt.*) Wenn man es begreift, wird's aber wohl
zu spät sein. Nun -- wir Socialdemokraten können warten. Dort
wie anderorts sind wir "die lachenden Erben".

Was ich über Frankreich gesagt, hat sich schnell erfüllt. Der neue
französische Minister des Auswärtigen, Waddington, erließ unmittel-
bar nach Eröffnung der türkisch-englischen Mediationskampagne eine
Cirkularnote, in welcher er das Jnteresse Frankreichs an der orienta-
lischen Frage betonte -- freilich unter Vermeidung jedes verletzenden oder
herausfordernden Worts. Jmmerhin war es die Ankündigung, daß
Frankreich wieder mitreden werde,
und hat darum unsere
Mordspatrioten nichts weniger als angenehm berührt.

Bezeichnend für die Stimmung in Frankreich und zwar in den
maßgebenden Kreisen, ist ein Leitartikel, der vor einigen Tagen in
dem Organ des "Zukunfts präsidenten" Gambetta, in der "Republique
Francaise"
erschien. Der Verfasser greift in die Zeiten Philipps von
Macedonien zurück, und findet in einer der "Philippiken" des Demo-
sthenes, in der Rede über die Angelegenheiten des Chersonesos (der heu-
tigen Halbinsel von Gallipoli), eine sehr schöne Analogie der gegenwär-
tigen Lage.

Damals, Ende des 3. Jahres der 109. Olympiade, im Frühjahr
341 vor Christus bedrohte Philipp die Stadt Byzanz (Constantinopel,
Stambul), und da die nördlichen Küsten des Schwarzen Meeres ge-
wissermaßen die Kornkammern Griechenlands waren, mußten die Athener,

*) Jn gewissen Kreisen zu Wien hat man sich durch den, von Rußland
hingehaltenen Köder der Annexion von Bosnien und der Herzegowina be-
rücken lassen. "Die Dummen werden nicht alle" (siehe Punkt 10 und 11 des
Testaments Peters des Großen).

ſollte, in den „welthiſtoriſchen‟ Küraſſierſtiefel zu ſchieben. Schon tauchen
dahin zielende Aeußerungen auf. Gegenüber ſolchen Verſuchen iſt auf
die Erklärung des engliſchen Miniſteriums hinzuweiſen — und auf die
Geſammthaltung der deutſchen Reichsregierung in der orientaliſchen
Frage.

Die Haltung Oeſterreichs iſt bis zum letzten Moment eine ſchwan-
kende geblieben. Es hat zwiſchen deutſch-ruſſiſchen und engliſchen Ein-
flüſſen hin und her geſchwankt wie ein Schilfrohr, und bietet uns jetzt,
in der Stunde der Entſcheidung auch über Oeſterreichs Schickſal,
das groteske Schauſpiel einer Kabinetskriſe wegen — des Kaffee-
zolls!
Der Tag iſt nicht fern, wo man in der Kaiſerburg zu Wien
einſehen wird, daß die Zertrümmerung der Türkei zugleich die Zer-
trümmerung Oeſterreichs bedeutet, daß der Schwertſtreich oder Feder-
ſtrich, der das Osmanenreich aus der Welt ſchafft, auch dem Habs-
burgerreich den Tod gibt.*) Wenn man es begreift, wird’s aber wohl
zu ſpät ſein. Nun — wir Socialdemokraten können warten. Dort
wie anderorts ſind wir „die lachenden Erben‟.

Was ich über Frankreich geſagt, hat ſich ſchnell erfüllt. Der neue
franzöſiſche Miniſter des Auswärtigen, Waddington, erließ unmittel-
bar nach Eröffnung der türkiſch-engliſchen Mediationskampagne eine
Cirkularnote, in welcher er das Jntereſſe Frankreichs an der orienta-
liſchen Frage betonte — freilich unter Vermeidung jedes verletzenden oder
herausfordernden Worts. Jmmerhin war es die Ankündigung, daß
Frankreich wieder mitreden werde,
und hat darum unſere
Mordspatrioten nichts weniger als angenehm berührt.

Bezeichnend für die Stimmung in Frankreich und zwar in den
maßgebenden Kreiſen, iſt ein Leitartikel, der vor einigen Tagen in
dem Organ des „Zukunfts präſidenten‟ Gambetta, in der „République
Française‟
erſchien. Der Verfaſſer greift in die Zeiten Philipps von
Macedonien zurück, und findet in einer der „Philippiken‟ des Demo-
ſthenes, in der Rede über die Angelegenheiten des Cherſoneſos (der heu-
tigen Halbinſel von Gallipoli), eine ſehr ſchöne Analogie der gegenwär-
tigen Lage.

Damals, Ende des 3. Jahres der 109. Olympiade, im Frühjahr
341 vor Chriſtus bedrohte Philipp die Stadt Byzanz (Conſtantinopel,
Stambul), und da die nördlichen Küſten des Schwarzen Meeres ge-
wiſſermaßen die Kornkammern Griechenlands waren, mußten die Athener,

*) Jn gewiſſen Kreiſen zu Wien hat man ſich durch den, von Rußland
hingehaltenen Köder der Annexion von Bosnien und der Herzegowina be-
rücken laſſen. „Die Dummen werden nicht alle‟ (ſiehe Punkt 10 und 11 des
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[40/0044] ſollte, in den „welthiſtoriſchen‟ Küraſſierſtiefel zu ſchieben. Schon tauchen dahin zielende Aeußerungen auf. Gegenüber ſolchen Verſuchen iſt auf die Erklärung des engliſchen Miniſteriums hinzuweiſen — und auf die Geſammthaltung der deutſchen Reichsregierung in der orientaliſchen Frage. Die Haltung Oeſterreichs iſt bis zum letzten Moment eine ſchwan- kende geblieben. Es hat zwiſchen deutſch-ruſſiſchen und engliſchen Ein- flüſſen hin und her geſchwankt wie ein Schilfrohr, und bietet uns jetzt, in der Stunde der Entſcheidung auch über Oeſterreichs Schickſal, das groteske Schauſpiel einer Kabinetskriſe wegen — des Kaffee- zolls! Der Tag iſt nicht fern, wo man in der Kaiſerburg zu Wien einſehen wird, daß die Zertrümmerung der Türkei zugleich die Zer- trümmerung Oeſterreichs bedeutet, daß der Schwertſtreich oder Feder- ſtrich, der das Osmanenreich aus der Welt ſchafft, auch dem Habs- burgerreich den Tod gibt. *) Wenn man es begreift, wird’s aber wohl zu ſpät ſein. Nun — wir Socialdemokraten können warten. Dort wie anderorts ſind wir „die lachenden Erben‟. Was ich über Frankreich geſagt, hat ſich ſchnell erfüllt. Der neue franzöſiſche Miniſter des Auswärtigen, Waddington, erließ unmittel- bar nach Eröffnung der türkiſch-engliſchen Mediationskampagne eine Cirkularnote, in welcher er das Jntereſſe Frankreichs an der orienta- liſchen Frage betonte — freilich unter Vermeidung jedes verletzenden oder herausfordernden Worts. Jmmerhin war es die Ankündigung, daß Frankreich wieder mitreden werde, und hat darum unſere Mordspatrioten nichts weniger als angenehm berührt. Bezeichnend für die Stimmung in Frankreich und zwar in den maßgebenden Kreiſen, iſt ein Leitartikel, der vor einigen Tagen in dem Organ des „Zukunfts präſidenten‟ Gambetta, in der „République Française‟ erſchien. Der Verfaſſer greift in die Zeiten Philipps von Macedonien zurück, und findet in einer der „Philippiken‟ des Demo- ſthenes, in der Rede über die Angelegenheiten des Cherſoneſos (der heu- tigen Halbinſel von Gallipoli), eine ſehr ſchöne Analogie der gegenwär- tigen Lage. Damals, Ende des 3. Jahres der 109. Olympiade, im Frühjahr 341 vor Chriſtus bedrohte Philipp die Stadt Byzanz (Conſtantinopel, Stambul), und da die nördlichen Küſten des Schwarzen Meeres ge- wiſſermaßen die Kornkammern Griechenlands waren, mußten die Athener, *) Jn gewiſſen Kreiſen zu Wien hat man ſich durch den, von Rußland hingehaltenen Köder der Annexion von Bosnien und der Herzegowina be- rücken laſſen. „Die Dummen werden nicht alle‟ (ſiehe Punkt 10 und 11 des Teſtaments Peters des Großen).

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/44>, abgerufen am 25.04.2024.