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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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tion zu besorgen hatten, die Herr Gladstone jetzt selbst besorgen
muß. Diese zwei Musterliberalen und Mustergeschäftsleute flossen
über von Zärtlichkeit für den "milden" Czar (der damals Nikolaus
hieß), faselten von "russischer Humanität und Kultur", schilderten die
Türkei als durch und durch verfault und barbarisch und lachten Jeden
aus, der da so ketzerisch war, zu behaupten, Rußland verfolge Er-
oberungszwecke und bedrohe durch seine Politik auch die englischen
Jnteressen. Die Herren schrien so laut, daß kein anderes Wort gehört
wurde, und wer England nicht kannte, mußte allerdings glauben, ganz
England stünde hinter Cobden, Bright und Compagnie. Da mit einem
Schlage änderte sich die Scene: der Moment der Entscheidung kam,
England mußte entweder auf seine Machtstellung verzichten, als
Großmacht abdanken, oder es mußte das Schwert ziehen. John Bull
besann sich keine Sekunde -- die Peace at any price men (Männer
des "Friedens" um jeden Preis die Sentimentalitätsdusler und Geschäfts-
politiker waren im Nu bei Seite geschoben, weggefegt von der poli-
tischen Bühne -- die handwerksmäßig gemachte "öffentliche Meinung"
verschwand wie im Handumdrehen vor der wirklichen, echten
Meinung des englischen Volkes, und bei Alma und Jnkerman be-
wiesen die Engländer, daß sie "noch die alten" sind.

Wie in Oesterreich die Lage aufgefaßt wird, erhellt aus der
uns von zuverlässigster Seite zugegangenen Nachricht, daß am 12. d.,
also Montag vor 8 Tagen, unter dem Vorsitz des Kaisers, ein außer-
ordentlicher Ministerrath stattfand, und die sofortige Mobili-
sirung
von drei Armeekorps beschloß*), welche in Sieben-
bürgen, Slavonien
und Dalmatien an der Grenze aufgestellt
werden sollen.

Kurz, die Ereignisse drängen zu einer Krisis.

Um die gegenwärtige Lage richtig zu beurtheilen, müssen wir uns
zwei Thatsachen vor Augen führen.

Erste Thatsache: Die Politik des deutschen Reichs,
oder sagen wir es lieber heraus: die Politik des deut-
schen Reichskanzlers hat die Lage geschaffen, auf Grund
deren der russisch-türkische Krieg möglich wurde
.
Ohne die Lostrennung Oesterreichs von Deutschland im Jahre 1866,
und ohne die Kluft, welche der 1870/71er Krieg und die Annexion von
Elsaß-Lothringen zwischen Deutschland und Frankreich erzeugt, hätte
Rußland nimmermehr wagen können, seine Eroberungspolitik der Türkei
gegenüber wieder aufzunehmen.

*) Diese Nachricht war ungenau: nicht die Mobilmachung, sondern nur
die Vorbereitung zur Mobilmachung wurde beschlossen.

tion zu beſorgen hatten, die Herr Gladſtone jetzt ſelbſt beſorgen
muß. Dieſe zwei Muſterliberalen und Muſtergeſchäftsleute floſſen
über von Zärtlichkeit für den „milden‟ Czar (der damals Nikolaus
hieß), faſelten von „ruſſiſcher Humanität und Kultur‟, ſchilderten die
Türkei als durch und durch verfault und barbariſch und lachten Jeden
aus, der da ſo ketzeriſch war, zu behaupten, Rußland verfolge Er-
oberungszwecke und bedrohe durch ſeine Politik auch die engliſchen
Jntereſſen. Die Herren ſchrien ſo laut, daß kein anderes Wort gehört
wurde, und wer England nicht kannte, mußte allerdings glauben, ganz
England ſtünde hinter Cobden, Bright und Compagnie. Da mit einem
Schlage änderte ſich die Scene: der Moment der Entſcheidung kam,
England mußte entweder auf ſeine Machtſtellung verzichten, als
Großmacht abdanken, oder es mußte das Schwert ziehen. John Bull
beſann ſich keine Sekunde — die Peace at any price men (Männer
des „Friedens‟ um jeden Preis die Sentimentalitätsdusler und Geſchäfts-
politiker waren im Nu bei Seite geſchoben, weggefegt von der poli-
tiſchen Bühne — die handwerksmäßig gemachte „öffentliche Meinung‟
verſchwand wie im Handumdrehen vor der wirklichen, echten
Meinung des engliſchen Volkes, und bei Alma und Jnkerman be-
wieſen die Engländer, daß ſie „noch die alten‟ ſind.

Wie in Oeſterreich die Lage aufgefaßt wird, erhellt aus der
uns von zuverläſſigſter Seite zugegangenen Nachricht, daß am 12. d.,
alſo Montag vor 8 Tagen, unter dem Vorſitz des Kaiſers, ein außer-
ordentlicher Miniſterrath ſtattfand, und die ſofortige Mobili-
ſirung
von drei Armeekorps beſchloß*), welche in Sieben-
bürgen, Slavonien
und Dalmatien an der Grenze aufgeſtellt
werden ſollen.

Kurz, die Ereigniſſe drängen zu einer Kriſis.

Um die gegenwärtige Lage richtig zu beurtheilen, müſſen wir uns
zwei Thatſachen vor Augen führen.

Erſte Thatſache: Die Politik des deutſchen Reichs,
oder ſagen wir es lieber heraus: die Politik des deut-
ſchen Reichskanzlers hat die Lage geſchaffen, auf Grund
deren der ruſſiſch-türkiſche Krieg möglich wurde
.
Ohne die Lostrennung Oeſterreichs von Deutſchland im Jahre 1866,
und ohne die Kluft, welche der 1870/71er Krieg und die Annexion von
Elſaß-Lothringen zwiſchen Deutſchland und Frankreich erzeugt, hätte
Rußland nimmermehr wagen können, ſeine Eroberungspolitik der Türkei
gegenüber wieder aufzunehmen.

*) Dieſe Nachricht war ungenau: nicht die Mobilmachung, ſondern nur
die Vorbereitung zur Mobilmachung wurde beſchloſſen.
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[27/0031] tion zu beſorgen hatten, die Herr Gladſtone jetzt ſelbſt beſorgen muß. Dieſe zwei Muſterliberalen und Muſtergeſchäftsleute floſſen über von Zärtlichkeit für den „milden‟ Czar (der damals Nikolaus hieß), faſelten von „ruſſiſcher Humanität und Kultur‟, ſchilderten die Türkei als durch und durch verfault und barbariſch und lachten Jeden aus, der da ſo ketzeriſch war, zu behaupten, Rußland verfolge Er- oberungszwecke und bedrohe durch ſeine Politik auch die engliſchen Jntereſſen. Die Herren ſchrien ſo laut, daß kein anderes Wort gehört wurde, und wer England nicht kannte, mußte allerdings glauben, ganz England ſtünde hinter Cobden, Bright und Compagnie. Da mit einem Schlage änderte ſich die Scene: der Moment der Entſcheidung kam, England mußte entweder auf ſeine Machtſtellung verzichten, als Großmacht abdanken, oder es mußte das Schwert ziehen. John Bull beſann ſich keine Sekunde — die Peace at any price men (Männer des „Friedens‟ um jeden Preis die Sentimentalitätsdusler und Geſchäfts- politiker waren im Nu bei Seite geſchoben, weggefegt von der poli- tiſchen Bühne — die handwerksmäßig gemachte „öffentliche Meinung‟ verſchwand wie im Handumdrehen vor der wirklichen, echten Meinung des engliſchen Volkes, und bei Alma und Jnkerman be- wieſen die Engländer, daß ſie „noch die alten‟ ſind. Wie in Oeſterreich die Lage aufgefaßt wird, erhellt aus der uns von zuverläſſigſter Seite zugegangenen Nachricht, daß am 12. d., alſo Montag vor 8 Tagen, unter dem Vorſitz des Kaiſers, ein außer- ordentlicher Miniſterrath ſtattfand, und die ſofortige Mobili- ſirung von drei Armeekorps beſchloß *), welche in Sieben- bürgen, Slavonien und Dalmatien an der Grenze aufgeſtellt werden ſollen. Kurz, die Ereigniſſe drängen zu einer Kriſis. Um die gegenwärtige Lage richtig zu beurtheilen, müſſen wir uns zwei Thatſachen vor Augen führen. Erſte Thatſache: Die Politik des deutſchen Reichs, oder ſagen wir es lieber heraus: die Politik des deut- ſchen Reichskanzlers hat die Lage geſchaffen, auf Grund deren der ruſſiſch-türkiſche Krieg möglich wurde. Ohne die Lostrennung Oeſterreichs von Deutſchland im Jahre 1866, und ohne die Kluft, welche der 1870/71er Krieg und die Annexion von Elſaß-Lothringen zwiſchen Deutſchland und Frankreich erzeugt, hätte Rußland nimmermehr wagen können, ſeine Eroberungspolitik der Türkei gegenüber wieder aufzunehmen. *) Dieſe Nachricht war ungenau: nicht die Mobilmachung, ſondern nur die Vorbereitung zur Mobilmachung wurde beſchloſſen.

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/31>, abgerufen am 20.04.2024.