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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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(Moldau und Walachei -- zusammen: Rumänien) räumen, und wurden
zu einem Vertheidigungskrieg (hauptsächlich in der Krim) gezwungen,
der ihnen seitens der Türken und deren Verbündeten: der Engländer
und Franzosen (die vom Großmachtskitzel geplagten Piemontesen zählen
nicht mit -- für sie war der Krimfeldzug blos eine politische Militär-
promenade) eine ununterbrochene Reihe schwerer Niederlagen einbrachte
und das Prestige Rußlands zerstörte. Jm Frieden von Paris (1856)
mußte Rußland auf die Donaumündungen verzichten und das Todes-
urtheil seiner Seemacht im Schwarzen Meere unterzeichnen.

Versteht sich, mit dem stillschweigenden Vorbehalt, wieder anzu-
fangen, sobald dies thunlich.

"Wir sammeln uns," sagte ein russischer Staatsmann nach dem
Pariser Frieden. Die russische Regierung baute strategische Eisenbahnen,
reorganisirte die Armee und wartete den passenden Moment ab.

Die europäische Politik ging nach Wunsch -- sie war in den richtigen
Händen.

Jm Herbst 1862 trat der in Petersburg wohlbekannte und hoch-
geschätzte Herr von Bismarck an die Spitze des preußischen Ministeriums.
Oestreich, das 1854 die Russen aus den Donaufürstenthümern getrieben
und sie aus der Offensive in die hoffnungslose Defensive gedrängt hatte,
fand sich urplötzlich selbst in die Defensive gedrängt, seine Stellung in
Deutschland gefährdet; die wenig verschleierten Pläne des neuen preu-
ßischen Ministerchefs gingen auf Verwirklichung der großpreußischen
oder kleindeutschen Jdee, d. i. Ausschluß Oestreichs aus Deutschland
und Einigung des übrigen Deutschland unter "preußischer Führung".
Der Dänenkrieg (1864) bereitete die endgültige Auseinandersetzung des
Bismarck'schen Preußen mit Oestreich vor. Ersteres siegte. Deutschland
bis an die Mainline wurde theils direkt, theils indirekt annektirt, die
süddeutschen Staaten vorläufig laufen gelassen und Oestreich "aus Deutsch-
land geworfen". Was das für Deutschland bedeutete, geht uns hier
nichts an; für Rußland bedeutete es: Durchbrechung des gewal-
tigen Damms, den die germanische Welt von der Nord-
see bis an die Adria gegen das Slaventhum gezogen
hatte
.

Das war 1866.

Noch gab es einen "moralischen" Damm: die Möglichkeit des Zu-
sammenwirkens Deutschlands mit Westeuropa. Wohlan, vier Jahre
später wurde auch dieser Damm durchbrochen -- die Annexion von
Elsaß-Lothringen machte das offizielle Frankreich auf Jahrzehnte hinaus
zum Feind des offiziellen Deutschland und zum Bundesgenossen aller
Feinde Deutschlands.

Jetzt hatte Rußland was es brauchte; das siegreiche Deutschland

(Moldau und Walachei — zuſammen: Rumänien) räumen, und wurden
zu einem Vertheidigungskrieg (hauptſächlich in der Krim) gezwungen,
der ihnen ſeitens der Türken und deren Verbündeten: der Engländer
und Franzoſen (die vom Großmachtskitzel geplagten Piemonteſen zählen
nicht mit — für ſie war der Krimfeldzug blos eine politiſche Militär-
promenade) eine ununterbrochene Reihe ſchwerer Niederlagen einbrachte
und das Preſtige Rußlands zerſtörte. Jm Frieden von Paris (1856)
mußte Rußland auf die Donaumündungen verzichten und das Todes-
urtheil ſeiner Seemacht im Schwarzen Meere unterzeichnen.

Verſteht ſich, mit dem ſtillſchweigenden Vorbehalt, wieder anzu-
fangen, ſobald dies thunlich.

„Wir ſammeln uns,‟ ſagte ein ruſſiſcher Staatsmann nach dem
Pariſer Frieden. Die ruſſiſche Regierung baute ſtrategiſche Eiſenbahnen,
reorganiſirte die Armee und wartete den paſſenden Moment ab.

Die europäiſche Politik ging nach Wunſch — ſie war in den richtigen
Händen.

Jm Herbſt 1862 trat der in Petersburg wohlbekannte und hoch-
geſchätzte Herr von Bismarck an die Spitze des preußiſchen Miniſteriums.
Oeſtreich, das 1854 die Ruſſen aus den Donaufürſtenthümern getrieben
und ſie aus der Offenſive in die hoffnungsloſe Defenſive gedrängt hatte,
fand ſich urplötzlich ſelbſt in die Defenſive gedrängt, ſeine Stellung in
Deutſchland gefährdet; die wenig verſchleierten Pläne des neuen preu-
ßiſchen Miniſterchefs gingen auf Verwirklichung der großpreußiſchen
oder kleindeutſchen Jdee, d. i. Ausſchluß Oeſtreichs aus Deutſchland
und Einigung des übrigen Deutſchland unter „preußiſcher Führung‟.
Der Dänenkrieg (1864) bereitete die endgültige Auseinanderſetzung des
Bismarck’ſchen Preußen mit Oeſtreich vor. Erſteres ſiegte. Deutſchland
bis an die Mainline wurde theils direkt, theils indirekt annektirt, die
ſüddeutſchen Staaten vorläufig laufen gelaſſen und Oeſtreich „aus Deutſch-
land geworfen‟. Was das für Deutſchland bedeutete, geht uns hier
nichts an; für Rußland bedeutete es: Durchbrechung des gewal-
tigen Damms, den die germaniſche Welt von der Nord-
ſee bis an die Adria gegen das Slaventhum gezogen
hatte
.

Das war 1866.

Noch gab es einen „moraliſchen‟ Damm: die Möglichkeit des Zu-
ſammenwirkens Deutſchlands mit Weſteuropa. Wohlan, vier Jahre
ſpäter wurde auch dieſer Damm durchbrochen — die Annexion von
Elſaß-Lothringen machte das offizielle Frankreich auf Jahrzehnte hinaus
zum Feind des offiziellen Deutſchland und zum Bundesgenoſſen aller
Feinde Deutſchlands.

Jetzt hatte Rußland was es brauchte; das ſiegreiche Deutſchland

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[15/0019] (Moldau und Walachei — zuſammen: Rumänien) räumen, und wurden zu einem Vertheidigungskrieg (hauptſächlich in der Krim) gezwungen, der ihnen ſeitens der Türken und deren Verbündeten: der Engländer und Franzoſen (die vom Großmachtskitzel geplagten Piemonteſen zählen nicht mit — für ſie war der Krimfeldzug blos eine politiſche Militär- promenade) eine ununterbrochene Reihe ſchwerer Niederlagen einbrachte und das Preſtige Rußlands zerſtörte. Jm Frieden von Paris (1856) mußte Rußland auf die Donaumündungen verzichten und das Todes- urtheil ſeiner Seemacht im Schwarzen Meere unterzeichnen. Verſteht ſich, mit dem ſtillſchweigenden Vorbehalt, wieder anzu- fangen, ſobald dies thunlich. „Wir ſammeln uns,‟ ſagte ein ruſſiſcher Staatsmann nach dem Pariſer Frieden. Die ruſſiſche Regierung baute ſtrategiſche Eiſenbahnen, reorganiſirte die Armee und wartete den paſſenden Moment ab. Die europäiſche Politik ging nach Wunſch — ſie war in den richtigen Händen. Jm Herbſt 1862 trat der in Petersburg wohlbekannte und hoch- geſchätzte Herr von Bismarck an die Spitze des preußiſchen Miniſteriums. Oeſtreich, das 1854 die Ruſſen aus den Donaufürſtenthümern getrieben und ſie aus der Offenſive in die hoffnungsloſe Defenſive gedrängt hatte, fand ſich urplötzlich ſelbſt in die Defenſive gedrängt, ſeine Stellung in Deutſchland gefährdet; die wenig verſchleierten Pläne des neuen preu- ßiſchen Miniſterchefs gingen auf Verwirklichung der großpreußiſchen oder kleindeutſchen Jdee, d. i. Ausſchluß Oeſtreichs aus Deutſchland und Einigung des übrigen Deutſchland unter „preußiſcher Führung‟. Der Dänenkrieg (1864) bereitete die endgültige Auseinanderſetzung des Bismarck’ſchen Preußen mit Oeſtreich vor. Erſteres ſiegte. Deutſchland bis an die Mainline wurde theils direkt, theils indirekt annektirt, die ſüddeutſchen Staaten vorläufig laufen gelaſſen und Oeſtreich „aus Deutſch- land geworfen‟. Was das für Deutſchland bedeutete, geht uns hier nichts an; für Rußland bedeutete es: Durchbrechung des gewal- tigen Damms, den die germaniſche Welt von der Nord- ſee bis an die Adria gegen das Slaventhum gezogen hatte. Das war 1866. Noch gab es einen „moraliſchen‟ Damm: die Möglichkeit des Zu- ſammenwirkens Deutſchlands mit Weſteuropa. Wohlan, vier Jahre ſpäter wurde auch dieſer Damm durchbrochen — die Annexion von Elſaß-Lothringen machte das offizielle Frankreich auf Jahrzehnte hinaus zum Feind des offiziellen Deutſchland und zum Bundesgenoſſen aller Feinde Deutſchlands. Jetzt hatte Rußland was es brauchte; das ſiegreiche Deutſchland

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/19>, abgerufen am 23.04.2024.