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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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karte macht dies klar. Rußland ist ein Raub- und Erobererstaat, der
nach der Weltherrschaft strebt, und Konstantinopel ist "die Pforte",
welche es von der Welt absperrt, und der Schlüssel, welcher ihm die
Welt erschließt. Rußland gleicht dem Gefangenen, der darüber brütet,
sein Kerkerthor zu sprengen und jede sich ihm bietende Gelegenheit be-
nutzt. Es ist einfach Jnstinkt, der Jnstinkt des Raubthiers, das aus
seinem Käfig ausbrechen will. "Wer in Konstantinopel regiert, wird
in Wahrheit Herr der Welt sein" heißt es im "Testament Peters des
Großen", diesem mit staunenswerther Schärfe und Kühnheit entworfenen
Programm der russischen Politik, welches der Petersburger
Diplomatie sehr unbequem geworden ist, so daß sie es sich viel Schweiß
und viel Geld kosten läßt, die Echtheit des Aktenstücks zu bestreiten.
Von Peter dem Großen, der kaum die nöthige Bildung und Fähigkeit
gehabt haben dürfte, ist das seinen Namen tragende "Testament" aller-
dings wohl schwerlich verfaßt -- ebenso wenig wie die Jlias und
Odyssee von Homer herrühren -- aber das ändert nichts an der That-
sache, daß das unter dem Namen "Testament Peters des Großen"
berühmt gewordene Aktenstück (welches wir am Schluß dieses Artikels
zum Abdruck bringen) das Programm der russischen Politik
ist,
an dessen Verwirklichung sie jetzt über anderthalb Jahrhunderte
lang mit eiserner Consequenz und zähester Ausdauer arbeitet. Das
Programm wird -- wenn wir von unwesentlichen, antiquirten (ver-
alteten) Punkten absehen -- so treu und gewissenhaft innegehalten,
daß sich auch der nicht Eingeweihte mit Hülfe dieses Ariadnefadens in
dem Labyrinth der russischen Diplomatie zurechtfinden, die Schleich-
wege erkennen, hinter den verlogenen Phrasen die wahren Zielpunkte
entdecken kann.

Militärische Lorbeeren haben die Russen in ihren Kämpfen gegen
die Türken höchst spärlich geerntet; desto "erfolgreicher" war ihre Diplo-
matie, die sich oft das übrige Europa dienstbar zu machen und wieder-
holt selbst Oestreich und England, die beiden Mächte, deren
Jnteressen denen Rußlands am antagonistischsten sind, als Sturmböcke
zu benutzen wußte. Jm Jahre 1829 wäre die russische Jnvasions-
Armee bis auf den letzten Mann verloren gewesen, wenn die Türkei
nicht durch ihre "guten Freunde" und "natürlichen Alliirten" (die sie
schon vorher bei Navarino lahm geschlagen hatten) zum Frieden von
Adrianopel gedrängt worden wäre.

Das war der letzte glückliche Türkenkrieg Rußlands. Der Krieg,
welchen es 1853 vom Zaune brach -- natürlich mußte die Religion
und Humanität herhalten -- bekam den Angreifern sehr schlecht, sie
wurden von den Türken empfindlich geschlagen, mußten, auf die drohende
Aufforderung Oestreichs hin, Hals über Kopf die Donauprovinzen

karte macht dies klar. Rußland iſt ein Raub- und Erobererſtaat, der
nach der Weltherrſchaft ſtrebt, und Konſtantinopel iſt „die Pforte‟,
welche es von der Welt abſperrt, und der Schlüſſel, welcher ihm die
Welt erſchließt. Rußland gleicht dem Gefangenen, der darüber brütet,
ſein Kerkerthor zu ſprengen und jede ſich ihm bietende Gelegenheit be-
nutzt. Es iſt einfach Jnſtinkt, der Jnſtinkt des Raubthiers, das aus
ſeinem Käfig ausbrechen will. „Wer in Konſtantinopel regiert, wird
in Wahrheit Herr der Welt ſein‟ heißt es im „Teſtament Peters des
Großen‟, dieſem mit ſtaunenswerther Schärfe und Kühnheit entworfenen
Programm der ruſſiſchen Politik, welches der Petersburger
Diplomatie ſehr unbequem geworden iſt, ſo daß ſie es ſich viel Schweiß
und viel Geld koſten läßt, die Echtheit des Aktenſtücks zu beſtreiten.
Von Peter dem Großen, der kaum die nöthige Bildung und Fähigkeit
gehabt haben dürfte, iſt das ſeinen Namen tragende „Teſtament‟ aller-
dings wohl ſchwerlich verfaßt — ebenſo wenig wie die Jlias und
Odyſſee von Homer herrühren — aber das ändert nichts an der That-
ſache, daß das unter dem Namen „Teſtament Peters des Großen‟
berühmt gewordene Aktenſtück (welches wir am Schluß dieſes Artikels
zum Abdruck bringen) das Programm der ruſſiſchen Politik
iſt,
an deſſen Verwirklichung ſie jetzt über anderthalb Jahrhunderte
lang mit eiſerner Conſequenz und zäheſter Ausdauer arbeitet. Das
Programm wird — wenn wir von unweſentlichen, antiquirten (ver-
alteten) Punkten abſehen — ſo treu und gewiſſenhaft innegehalten,
daß ſich auch der nicht Eingeweihte mit Hülfe dieſes Ariadnefadens in
dem Labyrinth der ruſſiſchen Diplomatie zurechtfinden, die Schleich-
wege erkennen, hinter den verlogenen Phraſen die wahren Zielpunkte
entdecken kann.

Militäriſche Lorbeeren haben die Ruſſen in ihren Kämpfen gegen
die Türken höchſt ſpärlich geerntet; deſto „erfolgreicher‟ war ihre Diplo-
matie, die ſich oft das übrige Europa dienſtbar zu machen und wieder-
holt ſelbſt Oeſtreich und England, die beiden Mächte, deren
Jntereſſen denen Rußlands am antagoniſtiſchſten ſind, als Sturmböcke
zu benutzen wußte. Jm Jahre 1829 wäre die ruſſiſche Jnvaſions-
Armee bis auf den letzten Mann verloren geweſen, wenn die Türkei
nicht durch ihre „guten Freunde‟ und „natürlichen Alliirten‟ (die ſie
ſchon vorher bei Navarino lahm geſchlagen hatten) zum Frieden von
Adrianopel gedrängt worden wäre.

Das war der letzte glückliche Türkenkrieg Rußlands. Der Krieg,
welchen es 1853 vom Zaune brach — natürlich mußte die Religion
und Humanitaͤt herhalten — bekam den Angreifern ſehr ſchlecht, ſie
wurden von den Türken empfindlich geſchlagen, mußten, auf die drohende
Aufforderung Oeſtreichs hin, Hals über Kopf die Donauprovinzen

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/18>, abgerufen am 28.03.2024.