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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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ist das deutsche Reich nicht gefragt worden, und hätte es sich zu einem
Veto! verstiegen, so wäre homerisches Gelächter an der Newa die Ant-
wort gewesen. Und warum? Wenn Graf Moltke es heute nicht weiß,
kann er sich's von Fürst Bismarck sagen lassen.

Vielleicht ist ihm ein Licht aufgegangen, als vor mehreren Wochen
ein halbamtliches russisches Blatt der deutschen Reichsregierung die
freche Drohung an den Kopf warf: "Man vergesse nicht, daß das
deutsche Kaiserreich 1871 nur mit unserer moralischen Hilfe errichtet
werden konnte; das deutsche Reich braucht uns, wir aber brauchen das
deutsche Reich nicht. Zeigt Deutschland sich undankbar, wohlan, so
haben wir einen anderen Bundesgenossen
."

Wer der "andere Bundesgenosse" ist?

Vergangenes Jahr -- der "Krieg in Sicht"-Schrecken ist in frischem
Gedächtniß -- hatte man in Berlin die Absicht, diesen "anderen Bun-
desgenossen", ehe er sich von den erlittenen Niederlagen erholt, wieder
ganz zu Kräften gelangt, durch einen vom Zaun gebrochenen Krieg zu
zermalmen; aber Rußland trat in's Mittel, es wollte den "anderen
Bundesgenossen" auf Lager behalten: der Krieg mußte abkomman-
dirt werden.

Der "andere Bundesgenosse" ist Frankreich.

Und wie ist es gekommen, daß Frankreich, welches in den fünf-
ziger Jahren (1853 -- 1856; der Krimkrieg dauerte von 1854 -- 1856)
Hand in Hand mit England den russischen Eroberungsgelüsten einen
kräftigen Riegel vorschob, anderthalb Milliarden und 150,000 Soldaten
opferte, um Europa von dem großen Ruhestörer, genannt Rußland,
zu befreien, jetzt "der andere Bundesgenosse" dieses nämlichen Rußland
ist, bereit, auf einen bloßen Wink von St. Petersburg das Werk Ruß-
lands zu thun?

Antwort: durch den Krieg von 1870 -- 1871; genauer ausge-
drückt! durch die Annexion von Elsaß-Lothringen.

Der Krieg, an dessen Schwelle wir uns befinden, ist der vierte,
seit Fürst Bismarck mit seiner "Blut- und Eisenpolitik" regiert. Diese
vier Kriege stehen im innigsten Zusammenhang, einer ist aus dem an-
deren hervorgewachsen, sie bilden eigentlich nur einen Krieg. Der
von 1866, welcher Deutschland zerriß und drei Viertel Deutschlands
unter die preußische Pickelhaube brachte, war die Folge des Dänenkriegs
von 1864; die Saat des deutsch-französischen Kriegs von 1870 und
71 wurde 1866 in dem preußisch-östreichischen Krieg ausgestreut; und
die gegenwärtige Weltlage ist die nothwendige Consequenz des Kriegs
von 1870/71.

Nach der Schlacht von Sedan protestirte die deutsche Sozialdemo-
kratie gegen die Fortsetzung des Kriegs und gegen die von oben her

iſt das deutſche Reich nicht gefragt worden, und hätte es ſich zu einem
Veto! verſtiegen, ſo wäre homeriſches Gelächter an der Newa die Ant-
wort geweſen. Und warum? Wenn Graf Moltke es heute nicht weiß,
kann er ſich’s von Fürſt Bismarck ſagen laſſen.

Vielleicht iſt ihm ein Licht aufgegangen, als vor mehreren Wochen
ein halbamtliches ruſſiſches Blatt der deutſchen Reichsregierung die
freche Drohung an den Kopf warf: „Man vergeſſe nicht, daß das
deutſche Kaiſerreich 1871 nur mit unſerer moraliſchen Hilfe errichtet
werden konnte; das deutſche Reich braucht uns, wir aber brauchen das
deutſche Reich nicht. Zeigt Deutſchland ſich undankbar, wohlan, ſo
haben wir einen anderen Bundesgenoſſen
.‟

Wer der „andere Bundesgenoſſe‟ iſt?

Vergangenes Jahr — der „Krieg in Sicht‟-Schrecken iſt in friſchem
Gedächtniß — hatte man in Berlin die Abſicht, dieſen „anderen Bun-
desgenoſſen‟, ehe er ſich von den erlittenen Niederlagen erholt, wieder
ganz zu Kräften gelangt, durch einen vom Zaun gebrochenen Krieg zu
zermalmen; aber Rußland trat in’s Mittel, es wollte den „anderen
Bundesgenoſſen‟ auf Lager behalten: der Krieg mußte abkomman-
dirt werden.

Der „andere Bundesgenoſſe‟ iſt Frankreich.

Und wie iſt es gekommen, daß Frankreich, welches in den fünf-
ziger Jahren (1853 — 1856; der Krimkrieg dauerte von 1854 — 1856)
Hand in Hand mit England den ruſſiſchen Eroberungsgelüſten einen
kräftigen Riegel vorſchob, anderthalb Milliarden und 150,000 Soldaten
opferte, um Europa von dem großen Ruheſtörer, genannt Rußland,
zu befreien, jetzt „der andere Bundesgenoſſe‟ dieſes nämlichen Rußland
iſt, bereit, auf einen bloßen Wink von St. Petersburg das Werk Ruß-
lands zu thun?

Antwort: durch den Krieg von 1870 — 1871; genauer ausge-
drückt! durch die Annexion von Elſaß-Lothringen.

Der Krieg, an deſſen Schwelle wir uns befinden, iſt der vierte,
ſeit Fürſt Bismarck mit ſeiner „Blut- und Eiſenpolitik‟ regiert. Dieſe
vier Kriege ſtehen im innigſten Zuſammenhang, einer iſt aus dem an-
deren hervorgewachſen, ſie bilden eigentlich nur einen Krieg. Der
von 1866, welcher Deutſchland zerriß und drei Viertel Deutſchlands
unter die preußiſche Pickelhaube brachte, war die Folge des Dänenkriegs
von 1864; die Saat des deutſch-franzöſiſchen Kriegs von 1870 und
71 wurde 1866 in dem preußiſch-öſtreichiſchen Krieg ausgeſtreut; und
die gegenwärtige Weltlage iſt die nothwendige Conſequenz des Kriegs
von 1870/71.

Nach der Schlacht von Sedan proteſtirte die deutſche Sozialdemo-
kratie gegen die Fortſetzung des Kriegs und gegen die von oben her

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[9/0013] iſt das deutſche Reich nicht gefragt worden, und hätte es ſich zu einem Veto! verſtiegen, ſo wäre homeriſches Gelächter an der Newa die Ant- wort geweſen. Und warum? Wenn Graf Moltke es heute nicht weiß, kann er ſich’s von Fürſt Bismarck ſagen laſſen. Vielleicht iſt ihm ein Licht aufgegangen, als vor mehreren Wochen ein halbamtliches ruſſiſches Blatt der deutſchen Reichsregierung die freche Drohung an den Kopf warf: „Man vergeſſe nicht, daß das deutſche Kaiſerreich 1871 nur mit unſerer moraliſchen Hilfe errichtet werden konnte; das deutſche Reich braucht uns, wir aber brauchen das deutſche Reich nicht. Zeigt Deutſchland ſich undankbar, wohlan, ſo haben wir einen anderen Bundesgenoſſen.‟ Wer der „andere Bundesgenoſſe‟ iſt? Vergangenes Jahr — der „Krieg in Sicht‟-Schrecken iſt in friſchem Gedächtniß — hatte man in Berlin die Abſicht, dieſen „anderen Bun- desgenoſſen‟, ehe er ſich von den erlittenen Niederlagen erholt, wieder ganz zu Kräften gelangt, durch einen vom Zaun gebrochenen Krieg zu zermalmen; aber Rußland trat in’s Mittel, es wollte den „anderen Bundesgenoſſen‟ auf Lager behalten: der Krieg mußte abkomman- dirt werden. Der „andere Bundesgenoſſe‟ iſt Frankreich. Und wie iſt es gekommen, daß Frankreich, welches in den fünf- ziger Jahren (1853 — 1856; der Krimkrieg dauerte von 1854 — 1856) Hand in Hand mit England den ruſſiſchen Eroberungsgelüſten einen kräftigen Riegel vorſchob, anderthalb Milliarden und 150,000 Soldaten opferte, um Europa von dem großen Ruheſtörer, genannt Rußland, zu befreien, jetzt „der andere Bundesgenoſſe‟ dieſes nämlichen Rußland iſt, bereit, auf einen bloßen Wink von St. Petersburg das Werk Ruß- lands zu thun? Antwort: durch den Krieg von 1870 — 1871; genauer ausge- drückt! durch die Annexion von Elſaß-Lothringen. Der Krieg, an deſſen Schwelle wir uns befinden, iſt der vierte, ſeit Fürſt Bismarck mit ſeiner „Blut- und Eiſenpolitik‟ regiert. Dieſe vier Kriege ſtehen im innigſten Zuſammenhang, einer iſt aus dem an- deren hervorgewachſen, ſie bilden eigentlich nur einen Krieg. Der von 1866, welcher Deutſchland zerriß und drei Viertel Deutſchlands unter die preußiſche Pickelhaube brachte, war die Folge des Dänenkriegs von 1864; die Saat des deutſch-franzöſiſchen Kriegs von 1870 und 71 wurde 1866 in dem preußiſch-öſtreichiſchen Krieg ausgeſtreut; und die gegenwärtige Weltlage iſt die nothwendige Conſequenz des Kriegs von 1870/71. Nach der Schlacht von Sedan proteſtirte die deutſche Sozialdemo- kratie gegen die Fortſetzung des Kriegs und gegen die von oben her

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/13>, abgerufen am 29.03.2024.