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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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Essex des Gasconiers Calprenede. Dabey er-
trägt er sein Unglück viel zu kleinmüthig, und
ist bald gegen die Königinn eben so kriechend,
als er vorher vermessen gegen sie war. Banks
hat ihn zu sehr nach dem Leben geschildert. Ein
Charakter, der sich so leicht vergißt, ist kein
Charakter, und eben daher der dramatischen
Nachahmung unwürdig. In der Geschichte
kann man dergleichen Widersprüche mit sich
selbst, für Verstellung halten, weil wir in der
Geschichte doch selten das Innerste des Herzens
kennen lernen: aber in dem Drama werden wir
mit dem Helden allzuvertraut, als daß wir nicht
gleich wissen sollten, ob seine Gesinnungen wirk-
lich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zu-
getrauet hätten, übereinstimmen, oder nicht.
Ja, sie mögen es, oder sie mögen es nicht: der
tragische Dichter kann ihn in beiden Fällen nicht
recht nutzen. Ohne Verstellung fällt der Cha-
rakter weg; bey der Verstellung die Würde des-
selben.

Mit der Elisabeth hat er in diesen Fehler nicht
fallen können. Diese Frau bleibt sich in der
Geschichte immer so vollkommen gleich, als es
wenige Männer bleiben. Ihre Zärtlichkeit
selbst, ihre heimliche Liebe zu dem Essex, hat
er mit vieler Anständigkeit behandelt; sie ist
auch bey ihm gewissermaßen noch ein Geheim-

niß.

Eſſex des Gaſconiers Calprenede. Dabey er-
trägt er ſein Unglück viel zu kleinmüthig, und
iſt bald gegen die Königinn eben ſo kriechend,
als er vorher vermeſſen gegen ſie war. Banks
hat ihn zu ſehr nach dem Leben geſchildert. Ein
Charakter, der ſich ſo leicht vergißt, iſt kein
Charakter, und eben daher der dramatiſchen
Nachahmung unwürdig. In der Geſchichte
kann man dergleichen Widerſprüche mit ſich
ſelbſt, für Verſtellung halten, weil wir in der
Geſchichte doch ſelten das Innerſte des Herzens
kennen lernen: aber in dem Drama werden wir
mit dem Helden allzuvertraut, als daß wir nicht
gleich wiſſen ſollten, ob ſeine Geſinnungen wirk-
lich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zu-
getrauet hätten, übereinſtimmen, oder nicht.
Ja, ſie mögen es, oder ſie mögen es nicht: der
tragiſche Dichter kann ihn in beiden Fällen nicht
recht nutzen. Ohne Verſtellung fällt der Cha-
rakter weg; bey der Verſtellung die Würde deſ-
ſelben.

Mit der Eliſabeth hat er in dieſen Fehler nicht
fallen können. Dieſe Frau bleibt ſich in der
Geſchichte immer ſo vollkommen gleich, als es
wenige Männer bleiben. Ihre Zärtlichkeit
ſelbſt, ihre heimliche Liebe zu dem Eſſex, hat
er mit vieler Anſtändigkeit behandelt; ſie iſt
auch bey ihm gewiſſermaßen noch ein Geheim-

niß.
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[34/0040] Eſſex des Gaſconiers Calprenede. Dabey er- trägt er ſein Unglück viel zu kleinmüthig, und iſt bald gegen die Königinn eben ſo kriechend, als er vorher vermeſſen gegen ſie war. Banks hat ihn zu ſehr nach dem Leben geſchildert. Ein Charakter, der ſich ſo leicht vergißt, iſt kein Charakter, und eben daher der dramatiſchen Nachahmung unwürdig. In der Geſchichte kann man dergleichen Widerſprüche mit ſich ſelbſt, für Verſtellung halten, weil wir in der Geſchichte doch ſelten das Innerſte des Herzens kennen lernen: aber in dem Drama werden wir mit dem Helden allzuvertraut, als daß wir nicht gleich wiſſen ſollten, ob ſeine Geſinnungen wirk- lich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zu- getrauet hätten, übereinſtimmen, oder nicht. Ja, ſie mögen es, oder ſie mögen es nicht: der tragiſche Dichter kann ihn in beiden Fällen nicht recht nutzen. Ohne Verſtellung fällt der Cha- rakter weg; bey der Verſtellung die Würde deſ- ſelben. Mit der Eliſabeth hat er in dieſen Fehler nicht fallen können. Dieſe Frau bleibt ſich in der Geſchichte immer ſo vollkommen gleich, als es wenige Männer bleiben. Ihre Zärtlichkeit ſelbſt, ihre heimliche Liebe zu dem Eſſex, hat er mit vieler Anſtändigkeit behandelt; ſie iſt auch bey ihm gewiſſermaßen noch ein Geheim- niß.

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/40>, abgerufen am 20.04.2024.