Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Cid zu erinnern. Die Anmerkung, die der Hr.
von Voltaire darüber gemacht hat, ist in vieler-
ley Betrachtung merkwürdig. "Heut zu Tage,
sagt er, "dürfte man es nicht wagen, einem
"Helden eine Ohrfeige geben zu lassen. Die
"Schauspieler selbst wissen nicht, wie sie sich da-
"bey anstellen sollen; sie thun nur, als ob sie
"eine gäben. Nicht einmal in der Komödie ist
"so etwas mehr erlaubt; und dieses ist das ein-
"zige Exempel, welches man auf der tragischen
"Bühne davon hat. Es ist glaublich, daß man
"unter andern mit deswegen den Cid eine Tra-
"gikomödie betitelte; und damals waren fast
"alle Stücke des Scuderi und des Boisrobert
"Tragikomödien. Man war in Frankreich lange
"der Meinung gewesen, daß sich das ununter-
"brochne Tragische, ohne alle Vermischung mit
"gemeinen Zügen, gar nicht aushalten lasse.
"Das Wort Tragikomödie selbst, ist sehr alt;
"Plautus braucht es, seinen Amphitruo damit
"zu bezeichnen, weil das Abentheuer des Sosias
"zwar komisch, Amphitruo selbst aber in allem
"Ernste betrübt ist." -- Was der Herr von
Voltaire nicht alles schreibt! Wie gern er im-
mer ein wenig Gelehrsamkeit zeigen will, und
wie sehr er meistentheils damit verunglückt!

Es ist nicht wahr, daß die Ohrfeige im Cid
die einzige auf der tragischen Bühne ist. Vol-
taire hat den Essex des Banks entweder nicht

ge-

Cid zu erinnern. Die Anmerkung, die der Hr.
von Voltaire darüber gemacht hat, iſt in vieler-
ley Betrachtung merkwürdig. „Heut zu Tage,
ſagt er, „dürfte man es nicht wagen, einem
„Helden eine Ohrfeige geben zu laſſen. Die
„Schauſpieler ſelbſt wiſſen nicht, wie ſie ſich da-
„bey anſtellen ſollen; ſie thun nur, als ob ſie
„eine gäben. Nicht einmal in der Komödie iſt
„ſo etwas mehr erlaubt; und dieſes iſt das ein-
„zige Exempel, welches man auf der tragiſchen
„Bühne davon hat. Es iſt glaublich, daß man
„unter andern mit deswegen den Cid eine Tra-
„gikomödie betitelte; und damals waren faſt
„alle Stücke des Scuderi und des Boisrobert
„Tragikomödien. Man war in Frankreich lange
„der Meinung geweſen, daß ſich das ununter-
„brochne Tragiſche, ohne alle Vermiſchung mit
„gemeinen Zügen, gar nicht aushalten laſſe.
„Das Wort Tragikomödie ſelbſt, iſt ſehr alt;
„Plautus braucht es, ſeinen Amphitruo damit
„zu bezeichnen, weil das Abentheuer des Soſias
„zwar komiſch, Amphitruo ſelbſt aber in allem
„Ernſte betrübt iſt.„ — Was der Herr von
Voltaire nicht alles ſchreibt! Wie gern er im-
mer ein wenig Gelehrſamkeit zeigen will, und
wie ſehr er meiſtentheils damit verunglückt!

Es iſt nicht wahr, daß die Ohrfeige im Cid
die einzige auf der tragiſchen Bühne iſt. Vol-
taire hat den Eſſex des Banks entweder nicht

ge-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0028" n="22"/>
Cid zu erinnern. Die Anmerkung, die der Hr.<lb/>
von Voltaire darüber gemacht hat, i&#x017F;t in vieler-<lb/>
ley Betrachtung merkwürdig. &#x201E;Heut zu Tage,<lb/>
&#x017F;agt er, &#x201E;dürfte man es nicht wagen, einem<lb/>
&#x201E;Helden eine Ohrfeige geben zu la&#x017F;&#x017F;en. Die<lb/>
&#x201E;Schau&#x017F;pieler &#x017F;elb&#x017F;t wi&#x017F;&#x017F;en nicht, wie &#x017F;ie &#x017F;ich da-<lb/>
&#x201E;bey an&#x017F;tellen &#x017F;ollen; &#x017F;ie thun nur, als ob &#x017F;ie<lb/>
&#x201E;eine gäben. Nicht einmal in der Komödie i&#x017F;t<lb/>
&#x201E;&#x017F;o etwas mehr erlaubt; und die&#x017F;es i&#x017F;t das ein-<lb/>
&#x201E;zige Exempel, welches man auf der tragi&#x017F;chen<lb/>
&#x201E;Bühne davon hat. Es i&#x017F;t glaublich, daß man<lb/>
&#x201E;unter andern mit deswegen den Cid eine Tra-<lb/>
&#x201E;gikomödie betitelte; und damals waren fa&#x017F;t<lb/>
&#x201E;alle Stücke des Scuderi und des Boisrobert<lb/>
&#x201E;Tragikomödien. Man war in Frankreich lange<lb/>
&#x201E;der Meinung gewe&#x017F;en, daß &#x017F;ich das ununter-<lb/>
&#x201E;brochne Tragi&#x017F;che, ohne alle Vermi&#x017F;chung mit<lb/>
&#x201E;gemeinen Zügen, gar nicht aushalten la&#x017F;&#x017F;e.<lb/>
&#x201E;Das Wort Tragikomödie &#x017F;elb&#x017F;t, i&#x017F;t &#x017F;ehr alt;<lb/>
&#x201E;Plautus braucht es, &#x017F;einen Amphitruo damit<lb/>
&#x201E;zu bezeichnen, weil das Abentheuer des So&#x017F;ias<lb/>
&#x201E;zwar komi&#x017F;ch, Amphitruo &#x017F;elb&#x017F;t aber in allem<lb/>
&#x201E;Ern&#x017F;te betrübt i&#x017F;t.&#x201E; &#x2014; Was der Herr von<lb/>
Voltaire nicht alles &#x017F;chreibt! Wie gern er im-<lb/>
mer ein wenig Gelehr&#x017F;amkeit zeigen will, und<lb/>
wie &#x017F;ehr er mei&#x017F;tentheils damit verunglückt!</p><lb/>
        <p>Es i&#x017F;t nicht wahr, daß die Ohrfeige im Cid<lb/>
die einzige auf der tragi&#x017F;chen Bühne i&#x017F;t. Vol-<lb/>
taire hat den E&#x017F;&#x017F;ex des Banks entweder nicht<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ge-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[22/0028] Cid zu erinnern. Die Anmerkung, die der Hr. von Voltaire darüber gemacht hat, iſt in vieler- ley Betrachtung merkwürdig. „Heut zu Tage, ſagt er, „dürfte man es nicht wagen, einem „Helden eine Ohrfeige geben zu laſſen. Die „Schauſpieler ſelbſt wiſſen nicht, wie ſie ſich da- „bey anſtellen ſollen; ſie thun nur, als ob ſie „eine gäben. Nicht einmal in der Komödie iſt „ſo etwas mehr erlaubt; und dieſes iſt das ein- „zige Exempel, welches man auf der tragiſchen „Bühne davon hat. Es iſt glaublich, daß man „unter andern mit deswegen den Cid eine Tra- „gikomödie betitelte; und damals waren faſt „alle Stücke des Scuderi und des Boisrobert „Tragikomödien. Man war in Frankreich lange „der Meinung geweſen, daß ſich das ununter- „brochne Tragiſche, ohne alle Vermiſchung mit „gemeinen Zügen, gar nicht aushalten laſſe. „Das Wort Tragikomödie ſelbſt, iſt ſehr alt; „Plautus braucht es, ſeinen Amphitruo damit „zu bezeichnen, weil das Abentheuer des Soſias „zwar komiſch, Amphitruo ſelbſt aber in allem „Ernſte betrübt iſt.„ — Was der Herr von Voltaire nicht alles ſchreibt! Wie gern er im- mer ein wenig Gelehrſamkeit zeigen will, und wie ſehr er meiſtentheils damit verunglückt! Es iſt nicht wahr, daß die Ohrfeige im Cid die einzige auf der tragiſchen Bühne iſt. Vol- taire hat den Eſſex des Banks entweder nicht ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/28
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/28>, abgerufen am 29.03.2024.