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Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876.

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Einleitung.
men sind. Wo Schleicher die Theilung des indogermanischen Sprachstammes
beschreibt, liegt stets diese Anschauung zu Grunde. Die Berechtigung dazu
gibt eine ganze Reihe bekannter historischer Thatsachen. Hat man Wanderungen
wie z. B. die der Angeln und Sachsen mit ihrer völligen Trennung von den
einstigen Volks- und Sprachgenossen vor Augen, deren Resultat die Entstehung
eines besonderen germanischen Volkes und einer besonderen Sprache war, so
muss man wenigstens die Möglichkeit zugeben, dass irgend eine Abtheilung des
Indogermanischen sich vollständig und scharf vom Urvolke oder einem Theil des-
selben abgelöst und die betreffende Sprachengruppe eine eigenthümliche Ent-
wicklung, abgesondert von allen anderen indogermanischen Sprachen, gehabt
haben kann.

So lange man, was bis vor einigen Jahren wenigstens bei der jüngeren
Generation der Sprachforscher wohl ziemlich allgemein der Fall war, an dieser
Vorstellung festhielt, gehörte es zu den Desiderata der Sprachvergleichung, neben
der Gesammtgrammatik des ganzen Sprachstammes vergleichende Grammatiken
der einzelnen Gruppen zu besitzen. Dies Verlangen war auch vollkommen ge-
rechtfertigt, da man ja annahm, dass jede Gruppe eine eigne Geschichte habe;
Versuche der Art sind vorhanden, so Leo Meyers Vergl. Grammatik des Griechi-
schen und Lateinischen, Ficks Wörterbuch; Schleicher hatte den Plan, eine ver-
gleichende Grammatik der nordeuropäischen Gruppe zu schreiben. Gegenwärtig
sind diese Wünsche in den Hintergrund getreten, theils weil die historische Gram-
matik der einzelnen Sprachen die Kräfte zu sehr in Anspruch nimmt, namentlich
aber, weil die ganze jenen Wünschen zu Grunde liegende, oben beschriebene An-
schauungsweise durch die Angriffe Joh. Schmidts ins Wanken gekommen ist.
Da meine Arbeit über die Declination im Germanischen und Slavisch-litauischen
voraussetzt, dass man überhaupt noch berechtigt sei zu dem Versuche, die Zu-
sammengehörigkeit dieser drei Familien als einer besonderen Gruppe des Indo-
germanischen nachzuweisen, muss ich meine Stellung zu Schmidts Ansichten
hier angeben, kann es aber an dieser Stelle nur in der Kürze.

Die Beweisführung in Schmidts Schrift (Die Verwandtschaftsverhältnisse der
indogermanischen Sprachen, 1872) darf ich nach den Erörterungen, die seitdem
für und wider geschehen sind, als bekannt voraussetzen und mich auf Angabe
des Resultats beschränken. Joh. Schmidt findet, dass gewisse sprachliche Eigen-
thümlichkeiten es unmöglich machen, auf der einen Seite das Slavisch-litauische
vom Germanischen, auf der andern Seite vom Arischen, namentlich Iranischen
zu trennen, und nach ihm (S. 17) ist "gleichmässig falsch sowohl die Annahme
einer slavisch-lettisch-deutschen Grundsprache als die einer slavisch-lettisch-
arischen Grundsprache, da keine von beiden Annahmen den sprachlichen That-
sachen gerecht wird. Wollte man sich dadurch aus der Verlegenheit retten, dass
man eine engere Einheit der nordeuropäischen Sprachen mit den arischen an-
nähme, d. h. wollte man sich die Sprachtrennung in der Weise vorstellen, dass
aus der Ursprache zunächst durch Zweitheilung erstens die südeuropäische
Grundsprache, die Mutter des Griechischen, Italischen und Keltischen und zwei-
tens eine Sprache hervorgegangen wäre, welche sich später durch abermalige

Einleitung.
men sind. Wo Schleicher die Theilung des indogermanischen Sprachstammes
beschreibt, liegt stets diese Anschauung zu Grunde. Die Berechtigung dazu
gibt eine ganze Reihe bekannter historischer Thatsachen. Hat man Wanderungen
wie z. B. die der Angeln und Sachsen mit ihrer völligen Trennung von den
einstigen Volks- und Sprachgenossen vor Augen, deren Resultat die Entstehung
eines besonderen germanischen Volkes und einer besonderen Sprache war, so
muss man wenigstens die Möglichkeit zugeben, dass irgend eine Abtheilung des
Indogermanischen sich vollständig und scharf vom Urvolke oder einem Theil des-
selben abgelöst und die betreffende Sprachengruppe eine eigenthümliche Ent-
wicklung, abgesondert von allen anderen indogermanischen Sprachen, gehabt
haben kann.

So lange man, was bis vor einigen Jahren wenigstens bei der jüngeren
Generation der Sprachforscher wohl ziemlich allgemein der Fall war, an dieser
Vorstellung festhielt, gehörte es zu den Desiderata der Sprachvergleichung, neben
der Gesammtgrammatik des ganzen Sprachstammes vergleichende Grammatiken
der einzelnen Gruppen zu besitzen. Dies Verlangen war auch vollkommen ge-
rechtfertigt, da man ja annahm, dass jede Gruppe eine eigne Geschichte habe;
Versuche der Art sind vorhanden, so Leo Meyers Vergl. Grammatik des Griechi-
schen und Lateinischen, Ficks Wörterbuch; Schleicher hatte den Plan, eine ver-
gleichende Grammatik der nordeuropäischen Gruppe zu schreiben. Gegenwärtig
sind diese Wünsche in den Hintergrund getreten, theils weil die historische Gram-
matik der einzelnen Sprachen die Kräfte zu sehr in Anspruch nimmt, namentlich
aber, weil die ganze jenen Wünschen zu Grunde liegende, oben beschriebene An-
schauungsweise durch die Angriffe Joh. Schmidts ins Wanken gekommen ist.
Da meine Arbeit über die Declination im Germanischen und Slavisch-litauischen
voraussetzt, dass man überhaupt noch berechtigt sei zu dem Versuche, die Zu-
sammengehörigkeit dieser drei Familien als einer besonderen Gruppe des Indo-
germanischen nachzuweisen, muss ich meine Stellung zu Schmidts Ansichten
hier angeben, kann es aber an dieser Stelle nur in der Kürze.

Die Beweisführung in Schmidts Schrift (Die Verwandtschaftsverhältnisse der
indogermanischen Sprachen, 1872) darf ich nach den Erörterungen, die seitdem
für und wider geschehen sind, als bekannt voraussetzen und mich auf Angabe
des Resultats beschränken. Joh. Schmidt findet, dass gewisse sprachliche Eigen-
thümlichkeiten es unmöglich machen, auf der einen Seite das Slavisch-litauische
vom Germanischen, auf der andern Seite vom Arischen, namentlich Iranischen
zu trennen, und nach ihm (S. 17) ist «gleichmässig falsch sowohl die Annahme
einer slavisch-lettisch-deutschen Grundsprache als die einer slavisch-lettisch-
arischen Grundsprache, da keine von beiden Annahmen den sprachlichen That-
sachen gerecht wird. Wollte man sich dadurch aus der Verlegenheit retten, dass
man eine engere Einheit der nordeuropäischen Sprachen mit den arischen an-
nähme, d. h. wollte man sich die Sprachtrennung in der Weise vorstellen, dass
aus der Ursprache zunächst durch Zweitheilung erstens die südeuropäische
Grundsprache, die Mutter des Griechischen, Italischen und Keltischen und zwei-
tens eine Sprache hervorgegangen wäre, welche sich später durch abermalige

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[VIII/0014] Einleitung. men sind. Wo Schleicher die Theilung des indogermanischen Sprachstammes beschreibt, liegt stets diese Anschauung zu Grunde. Die Berechtigung dazu gibt eine ganze Reihe bekannter historischer Thatsachen. Hat man Wanderungen wie z. B. die der Angeln und Sachsen mit ihrer völligen Trennung von den einstigen Volks- und Sprachgenossen vor Augen, deren Resultat die Entstehung eines besonderen germanischen Volkes und einer besonderen Sprache war, so muss man wenigstens die Möglichkeit zugeben, dass irgend eine Abtheilung des Indogermanischen sich vollständig und scharf vom Urvolke oder einem Theil des- selben abgelöst und die betreffende Sprachengruppe eine eigenthümliche Ent- wicklung, abgesondert von allen anderen indogermanischen Sprachen, gehabt haben kann. So lange man, was bis vor einigen Jahren wenigstens bei der jüngeren Generation der Sprachforscher wohl ziemlich allgemein der Fall war, an dieser Vorstellung festhielt, gehörte es zu den Desiderata der Sprachvergleichung, neben der Gesammtgrammatik des ganzen Sprachstammes vergleichende Grammatiken der einzelnen Gruppen zu besitzen. Dies Verlangen war auch vollkommen ge- rechtfertigt, da man ja annahm, dass jede Gruppe eine eigne Geschichte habe; Versuche der Art sind vorhanden, so Leo Meyers Vergl. Grammatik des Griechi- schen und Lateinischen, Ficks Wörterbuch; Schleicher hatte den Plan, eine ver- gleichende Grammatik der nordeuropäischen Gruppe zu schreiben. Gegenwärtig sind diese Wünsche in den Hintergrund getreten, theils weil die historische Gram- matik der einzelnen Sprachen die Kräfte zu sehr in Anspruch nimmt, namentlich aber, weil die ganze jenen Wünschen zu Grunde liegende, oben beschriebene An- schauungsweise durch die Angriffe Joh. Schmidts ins Wanken gekommen ist. Da meine Arbeit über die Declination im Germanischen und Slavisch-litauischen voraussetzt, dass man überhaupt noch berechtigt sei zu dem Versuche, die Zu- sammengehörigkeit dieser drei Familien als einer besonderen Gruppe des Indo- germanischen nachzuweisen, muss ich meine Stellung zu Schmidts Ansichten hier angeben, kann es aber an dieser Stelle nur in der Kürze. Die Beweisführung in Schmidts Schrift (Die Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen, 1872) darf ich nach den Erörterungen, die seitdem für und wider geschehen sind, als bekannt voraussetzen und mich auf Angabe des Resultats beschränken. Joh. Schmidt findet, dass gewisse sprachliche Eigen- thümlichkeiten es unmöglich machen, auf der einen Seite das Slavisch-litauische vom Germanischen, auf der andern Seite vom Arischen, namentlich Iranischen zu trennen, und nach ihm (S. 17) ist «gleichmässig falsch sowohl die Annahme einer slavisch-lettisch-deutschen Grundsprache als die einer slavisch-lettisch- arischen Grundsprache, da keine von beiden Annahmen den sprachlichen That- sachen gerecht wird. Wollte man sich dadurch aus der Verlegenheit retten, dass man eine engere Einheit der nordeuropäischen Sprachen mit den arischen an- nähme, d. h. wollte man sich die Sprachtrennung in der Weise vorstellen, dass aus der Ursprache zunächst durch Zweitheilung erstens die südeuropäische Grundsprache, die Mutter des Griechischen, Italischen und Keltischen und zwei- tens eine Sprache hervorgegangen wäre, welche sich später durch abermalige

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Zitationshilfe: Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876, S. VIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/14>, abgerufen am 23.04.2024.