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Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

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liebes Publikum, wenn du die Dämme so
hoch aufziehst, die Grenzen so weit steckst,
von Dichterlingen überschwemmt zu werden.
Sie lieben das freye Feld nicht, sie befin-
den sich besser hinter den Aussenwerken des
Handwerks. Es ist keine Kleinigkeit, Schlin-
gen für die Herzen auszuwerfen, alle die tau-
send Köpfe wegzuzaubern und willig zu ma-
chen uns zu folgen. Die französischen Jn-
triguen, deren sie ganze Kramläden voll ha-
ben, die sie verändern, bereichern, zusam-
menflicken wie die Moden, werden sie nicht
von Tage zu Tage uninteressanter, abge-
schmackter? Es geht ihren Schauspieldich-
tern wie den lustigen Räthen in Gesellschaf-
ten, die in der ersten halben Stunde erträg-
lich, in der zweyten sich selbst wiederholen,
in der dritten von niemand mehr gehört wer-
den als von sich selbst. Hab ich doch letzt
eine lange Komödie gesehen, die nur auf
einem Wortspiel drehte. Ja wenn solche
trifles light as air von einem Shakespear be-
handelt werden, aber wenn die Jntrigue das
Wesen des Stücks ausmacht, und die Ver-
wirrung besteht in einem Wort, so ist das
ganze Stück so viel werth -- als ein Wort-
spiel. Woher aber diese schimmernde Ar-
muth? Der Witz eines Shakespears er-
schöpft sich nie und hätt' er noch so viel Schau-
spiele geschrieben. Sie kommt -- erlauben

Sie



liebes Publikum, wenn du die Daͤmme ſo
hoch aufziehſt, die Grenzen ſo weit ſteckſt,
von Dichterlingen uͤberſchwemmt zu werden.
Sie lieben das freye Feld nicht, ſie befin-
den ſich beſſer hinter den Auſſenwerken des
Handwerks. Es iſt keine Kleinigkeit, Schlin-
gen fuͤr die Herzen auszuwerfen, alle die tau-
ſend Koͤpfe wegzuzaubern und willig zu ma-
chen uns zu folgen. Die franzoͤſiſchen Jn-
triguen, deren ſie ganze Kramlaͤden voll ha-
ben, die ſie veraͤndern, bereichern, zuſam-
menflicken wie die Moden, werden ſie nicht
von Tage zu Tage unintereſſanter, abge-
ſchmackter? Es geht ihren Schauſpieldich-
tern wie den luſtigen Raͤthen in Geſellſchaf-
ten, die in der erſten halben Stunde ertraͤg-
lich, in der zweyten ſich ſelbſt wiederholen,
in der dritten von niemand mehr gehoͤrt wer-
den als von ſich ſelbſt. Hab ich doch letzt
eine lange Komoͤdie geſehen, die nur auf
einem Wortſpiel drehte. Ja wenn ſolche
trifles light as air von einem Shakeſpear be-
handelt werden, aber wenn die Jntrigue das
Weſen des Stuͤcks ausmacht, und die Ver-
wirrung beſteht in einem Wort, ſo iſt das
ganze Stuͤck ſo viel werth — als ein Wort-
ſpiel. Woher aber dieſe ſchimmernde Ar-
muth? Der Witz eines Shakeſpears er-
ſchoͤpft ſich nie und haͤtt’ er noch ſo viel Schau-
ſpiele geſchrieben. Sie kommt — erlauben

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[38/0044] liebes Publikum, wenn du die Daͤmme ſo hoch aufziehſt, die Grenzen ſo weit ſteckſt, von Dichterlingen uͤberſchwemmt zu werden. Sie lieben das freye Feld nicht, ſie befin- den ſich beſſer hinter den Auſſenwerken des Handwerks. Es iſt keine Kleinigkeit, Schlin- gen fuͤr die Herzen auszuwerfen, alle die tau- ſend Koͤpfe wegzuzaubern und willig zu ma- chen uns zu folgen. Die franzoͤſiſchen Jn- triguen, deren ſie ganze Kramlaͤden voll ha- ben, die ſie veraͤndern, bereichern, zuſam- menflicken wie die Moden, werden ſie nicht von Tage zu Tage unintereſſanter, abge- ſchmackter? Es geht ihren Schauſpieldich- tern wie den luſtigen Raͤthen in Geſellſchaf- ten, die in der erſten halben Stunde ertraͤg- lich, in der zweyten ſich ſelbſt wiederholen, in der dritten von niemand mehr gehoͤrt wer- den als von ſich ſelbſt. Hab ich doch letzt eine lange Komoͤdie geſehen, die nur auf einem Wortſpiel drehte. Ja wenn ſolche trifles light as air von einem Shakeſpear be- handelt werden, aber wenn die Jntrigue das Weſen des Stuͤcks ausmacht, und die Ver- wirrung beſteht in einem Wort, ſo iſt das ganze Stuͤck ſo viel werth — als ein Wort- ſpiel. Woher aber dieſe ſchimmernde Ar- muth? Der Witz eines Shakeſpears er- ſchoͤpft ſich nie und haͤtt’ er noch ſo viel Schau- ſpiele geſchrieben. Sie kommt — erlauben Sie

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Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/44>, abgerufen am 28.03.2024.