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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. I. Fragment.

Wenn Glückseligkeit und Menschenliebe durch irgend eine vollkommene Wissenschaft zerstö-
ret und gemindert werden könnte, so würde Wahrheit der Wahrheit und Gott Gott widersprechen.

Der Mensch, der im Ernste behauptet: "daß irgend eine vollkommene Wissenschaft der
"Menschengesellschaft schädlich sey, oder die Menschenliebe nicht befördere," (ohne welche sich fürs
Menschengeschlecht keine Glückseligkeit gedenken läßt) ist gewiß nicht der Mann, mit dem unser
Verfasser gern philosophiren möchte. Und gewiß wird er es mit mir als einen Grundsatz an-
nehmen:

"Je näher der Wahrheit, desto näher der Glückseligkeit." Je mehr unsere Erkennt-
niß der Erkenntniß Gottes, und unser Urtheil dem seinigen ähnlich ist -- desto ähnlicher unsere
Menschenliebe der Menschenliebe Gottes.

Der, der weiß, was für ein Gemächt wir sind, und es nie vergißt, daß wir Staub
sind
-- ist der toleranteste Menschenfreund.

Engel, glaub' ich, sind bessere Physiognomisten und bessere Menschenfreunde, als Menschen;
obgleich sie tausend Fehler und Unvollkommenheiten an uns bemerken mögen, die dem schärfsten
Auge des Menschen entgehen.

Gott ist der toleranteste aller Geister, weil er der größte Geisterkenner ist.

Und wer war duldender, liebender, schonender, verzeihender, als du -- der du nicht be-
durftest, daß dir jemand von dem Menschen Zeugniß gäbe, weil du wußtest, was in
dem Menschen war.



"Daß aber mächtige, beliebte und dabey thätige Stümper in der Physiognomik der Ge-
"sellschaft gefährlich werden können, ist gewiß."

Und gewiß, würdiger Mann, daß es mein ernster Vorsatz und mein gewissenhaftes Be-
streben ist, "solche gefährliche Stümper" von ihr wegzuschrecken;

Und gewiß -- daß durch nichts, als durch haarscharfen Beobachtungsgeist, diese so gefähr-
liche Stümperey vertrieben werden kann.

Und gewiß -- daß alle Wissenschaft in der Welt durch Stümperey, das ist, Nichtbeobach-
tung, Witzeley u. s. w. gefährlich -- ehrwürdig hingegen und ungefährlich wird, durch Beobach-

tung,
I. Abſchnitt. I. Fragment.

Wenn Gluͤckſeligkeit und Menſchenliebe durch irgend eine vollkommene Wiſſenſchaft zerſtoͤ-
ret und gemindert werden koͤnnte, ſo wuͤrde Wahrheit der Wahrheit und Gott Gott widerſprechen.

Der Menſch, der im Ernſte behauptet: „daß irgend eine vollkommene Wiſſenſchaft der
„Menſchengeſellſchaft ſchaͤdlich ſey, oder die Menſchenliebe nicht befoͤrdere,“ (ohne welche ſich fuͤrs
Menſchengeſchlecht keine Gluͤckſeligkeit gedenken laͤßt) iſt gewiß nicht der Mann, mit dem unſer
Verfaſſer gern philoſophiren moͤchte. Und gewiß wird er es mit mir als einen Grundſatz an-
nehmen:

Je naͤher der Wahrheit, deſto naͤher der Gluͤckſeligkeit.“ Je mehr unſere Erkennt-
niß der Erkenntniß Gottes, und unſer Urtheil dem ſeinigen aͤhnlich iſt — deſto aͤhnlicher unſere
Menſchenliebe der Menſchenliebe Gottes.

Der, der weiß, was fuͤr ein Gemaͤcht wir ſind, und es nie vergißt, daß wir Staub
ſind
— iſt der toleranteſte Menſchenfreund.

Engel, glaub’ ich, ſind beſſere Phyſiognomiſten und beſſere Menſchenfreunde, als Menſchen;
obgleich ſie tauſend Fehler und Unvollkommenheiten an uns bemerken moͤgen, die dem ſchaͤrfſten
Auge des Menſchen entgehen.

Gott iſt der toleranteſte aller Geiſter, weil er der groͤßte Geiſterkenner iſt.

Und wer war duldender, liebender, ſchonender, verzeihender, als du — der du nicht be-
durfteſt, daß dir jemand von dem Menſchen Zeugniß gaͤbe, weil du wußteſt, was in
dem Menſchen war.



„Daß aber maͤchtige, beliebte und dabey thaͤtige Stuͤmper in der Phyſiognomik der Ge-
„ſellſchaft gefaͤhrlich werden koͤnnen, iſt gewiß.

Und gewiß, wuͤrdiger Mann, daß es mein ernſter Vorſatz und mein gewiſſenhaftes Be-
ſtreben iſt, „ſolche gefaͤhrliche Stuͤmper“ von ihr wegzuſchrecken;

Und gewiß — daß durch nichts, als durch haarſcharfen Beobachtungsgeiſt, dieſe ſo gefaͤhr-
liche Stuͤmperey vertrieben werden kann.

Und gewiß — daß alle Wiſſenſchaft in der Welt durch Stuͤmperey, das iſt, Nichtbeobach-
tung, Witzeley u. ſ. w. gefaͤhrlich — ehrwuͤrdig hingegen und ungefaͤhrlich wird, durch Beobach-

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[6/0022] I. Abſchnitt. I. Fragment. Wenn Gluͤckſeligkeit und Menſchenliebe durch irgend eine vollkommene Wiſſenſchaft zerſtoͤ- ret und gemindert werden koͤnnte, ſo wuͤrde Wahrheit der Wahrheit und Gott Gott widerſprechen. Der Menſch, der im Ernſte behauptet: „daß irgend eine vollkommene Wiſſenſchaft der „Menſchengeſellſchaft ſchaͤdlich ſey, oder die Menſchenliebe nicht befoͤrdere,“ (ohne welche ſich fuͤrs Menſchengeſchlecht keine Gluͤckſeligkeit gedenken laͤßt) iſt gewiß nicht der Mann, mit dem unſer Verfaſſer gern philoſophiren moͤchte. Und gewiß wird er es mit mir als einen Grundſatz an- nehmen: „Je naͤher der Wahrheit, deſto naͤher der Gluͤckſeligkeit.“ Je mehr unſere Erkennt- niß der Erkenntniß Gottes, und unſer Urtheil dem ſeinigen aͤhnlich iſt — deſto aͤhnlicher unſere Menſchenliebe der Menſchenliebe Gottes. Der, der weiß, was fuͤr ein Gemaͤcht wir ſind, und es nie vergißt, daß wir Staub ſind — iſt der toleranteſte Menſchenfreund. Engel, glaub’ ich, ſind beſſere Phyſiognomiſten und beſſere Menſchenfreunde, als Menſchen; obgleich ſie tauſend Fehler und Unvollkommenheiten an uns bemerken moͤgen, die dem ſchaͤrfſten Auge des Menſchen entgehen. Gott iſt der toleranteſte aller Geiſter, weil er der groͤßte Geiſterkenner iſt. Und wer war duldender, liebender, ſchonender, verzeihender, als du — der du nicht be- durfteſt, daß dir jemand von dem Menſchen Zeugniß gaͤbe, weil du wußteſt, was in dem Menſchen war. „Daß aber maͤchtige, beliebte und dabey thaͤtige Stuͤmper in der Phyſiognomik der Ge- „ſellſchaft gefaͤhrlich werden koͤnnen, iſt gewiß.“ Und gewiß, wuͤrdiger Mann, daß es mein ernſter Vorſatz und mein gewiſſenhaftes Be- ſtreben iſt, „ſolche gefaͤhrliche Stuͤmper“ von ihr wegzuſchrecken; Und gewiß — daß durch nichts, als durch haarſcharfen Beobachtungsgeiſt, dieſe ſo gefaͤhr- liche Stuͤmperey vertrieben werden kann. Und gewiß — daß alle Wiſſenſchaft in der Welt durch Stuͤmperey, das iſt, Nichtbeobach- tung, Witzeley u. ſ. w. gefaͤhrlich — ehrwuͤrdig hingegen und ungefaͤhrlich wird, durch Beobach- tung,

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/22>, abgerufen am 24.04.2024.