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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Anmerkungen zu einer physiognomischen Abhandlung.

Physiognomik in ihrer größten Vollkommenheit -- das heißt: Menschenkenntniß in
ihrer größten Vollkommenheit ... und diese sollte die Menschenliebe nicht befördern -- oder --
mit andern Worten -- nicht unzählige Vollkommenheiten entdecken, die die halbe Physiognomik
oder die Nichtphysiognomik nicht entdeckt?

O mein edler tiefblickender Menschenfreund, in dem Augenblicke, da Sie dieß schrieben,
haben Sie vergessen, daß Sie so wahr, so schön sagten: "Auch die auffallendste Häßlichkeit ver-
"mag sich durch die Tugend Reize zu geben, die irgend jemand unwiderstehlich sind" -- und wem
unwiderstehlicher, wem lesbarer -- "als dem vollkommensten Physiognomisten? -- und "unwi-
"derstehliche Reize," denk' ich, so ferne sie erkannt werden, befördern doch wohl eher Liebe, als Haß?

Jch darf mich frey und kühn auf meine eigne Erfahrung berufen -- Je mehr sich meine
physiognomische Kenntniß erweitert und vervollkommnet, desto weiter und kräftiger kann mein
Herz lieben.

Und wenn ich gleich durch eben diese Kenntniß bisweilen sehr gedrückt werde, so bleibt's
dennoch wahr -- Einmal -- gerade diese Bedrückungen, die gewisse verächtliche Gesichter mir
verursachen -- machen mir natürlicher Weise alles Edle, Liebenswürdige, das so oft aus den
menschlichen Gesichtern nur wie Glut aus der Asche hervorglimmt, um so viel theurer, heiliger,
reizender -- Jch trage mehr Sorge zu dem wenigen Guten, das ich bemerke; suche meine Wirk-
samkeit auf diesen Punkt zu richten -- Hier Land zu bauen, und zu gewinnen -- und wo ich Ueber-
gewicht von Güte und Kraft wahrnehme -- wie muß da meine Achtung und Liebe von selbst sich
hinwurzeln und ausbreiten! -- Und dann -- der genaue Anblick selbst derer, die mich drücken und
einige Augenblicke über die Menschheit ergrimmen lassen, -- macht mich gleich hernach wiederum
toleranter gegen sie, weil ich das Gewicht und die Art von Sinnlichkeit, welche sie zu bekämpfen
haben, anschauend erkenne.

Alle Wahrheit, alle Kenntniß dessen, was ist, was auf uns wirkt, worauf wir wirken,
nützt, und befördert Glückseligkeit -- macht einzelne Menschen glücklicher -- wer das läugnet,
kann nie, soll nie untersuchen. Je vollkommener die Kenntniß, desto größer der Nutzen.

Was nützt und Glückseligkeit befördert, befördert Menschenliebe. Glückliche Men-
schen ohne Menschenliebe -- wo sind sie? wo möglich?

Wenn
A 3
Anmerkungen zu einer phyſiognomiſchen Abhandlung.

Phyſiognomik in ihrer groͤßten Vollkommenheit — das heißt: Menſchenkenntniß in
ihrer groͤßten Vollkommenheit ... und dieſe ſollte die Menſchenliebe nicht befoͤrdern — oder —
mit andern Worten — nicht unzaͤhlige Vollkommenheiten entdecken, die die halbe Phyſiognomik
oder die Nichtphyſiognomik nicht entdeckt?

O mein edler tiefblickender Menſchenfreund, in dem Augenblicke, da Sie dieß ſchrieben,
haben Sie vergeſſen, daß Sie ſo wahr, ſo ſchoͤn ſagten: „Auch die auffallendſte Haͤßlichkeit ver-
„mag ſich durch die Tugend Reize zu geben, die irgend jemand unwiderſtehlich ſind“ — und wem
unwiderſtehlicher, wem lesbarer — „als dem vollkommenſten Phyſiognomiſten? — und „unwi-
„derſtehliche Reize,“ denk’ ich, ſo ferne ſie erkannt werden, befoͤrdern doch wohl eher Liebe, als Haß?

Jch darf mich frey und kuͤhn auf meine eigne Erfahrung berufen — Je mehr ſich meine
phyſiognomiſche Kenntniß erweitert und vervollkommnet, deſto weiter und kraͤftiger kann mein
Herz lieben.

Und wenn ich gleich durch eben dieſe Kenntniß bisweilen ſehr gedruͤckt werde, ſo bleibt’s
dennoch wahr — Einmal — gerade dieſe Bedruͤckungen, die gewiſſe veraͤchtliche Geſichter mir
verurſachen — machen mir natuͤrlicher Weiſe alles Edle, Liebenswuͤrdige, das ſo oft aus den
menſchlichen Geſichtern nur wie Glut aus der Aſche hervorglimmt, um ſo viel theurer, heiliger,
reizender — Jch trage mehr Sorge zu dem wenigen Guten, das ich bemerke; ſuche meine Wirk-
ſamkeit auf dieſen Punkt zu richten — Hier Land zu bauen, und zu gewinnen — und wo ich Ueber-
gewicht von Guͤte und Kraft wahrnehme — wie muß da meine Achtung und Liebe von ſelbſt ſich
hinwurzeln und ausbreiten! — Und dann — der genaue Anblick ſelbſt derer, die mich druͤcken und
einige Augenblicke uͤber die Menſchheit ergrimmen laſſen, — macht mich gleich hernach wiederum
toleranter gegen ſie, weil ich das Gewicht und die Art von Sinnlichkeit, welche ſie zu bekaͤmpfen
haben, anſchauend erkenne.

Alle Wahrheit, alle Kenntniß deſſen, was iſt, was auf uns wirkt, worauf wir wirken,
nuͤtzt, und befoͤrdert Gluͤckſeligkeit — macht einzelne Menſchen gluͤcklicher — wer das laͤugnet,
kann nie, ſoll nie unterſuchen. Je vollkommener die Kenntniß, deſto groͤßer der Nutzen.

Was nuͤtzt und Gluͤckſeligkeit befoͤrdert, befoͤrdert Menſchenliebe. Gluͤckliche Men-
ſchen ohne Menſchenliebe — wo ſind ſie? wo moͤglich?

Wenn
A 3
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[5/0021] Anmerkungen zu einer phyſiognomiſchen Abhandlung. Phyſiognomik in ihrer groͤßten Vollkommenheit — das heißt: Menſchenkenntniß in ihrer groͤßten Vollkommenheit ... und dieſe ſollte die Menſchenliebe nicht befoͤrdern — oder — mit andern Worten — nicht unzaͤhlige Vollkommenheiten entdecken, die die halbe Phyſiognomik oder die Nichtphyſiognomik nicht entdeckt? O mein edler tiefblickender Menſchenfreund, in dem Augenblicke, da Sie dieß ſchrieben, haben Sie vergeſſen, daß Sie ſo wahr, ſo ſchoͤn ſagten: „Auch die auffallendſte Haͤßlichkeit ver- „mag ſich durch die Tugend Reize zu geben, die irgend jemand unwiderſtehlich ſind“ — und wem unwiderſtehlicher, wem lesbarer — „als dem vollkommenſten Phyſiognomiſten? — und „unwi- „derſtehliche Reize,“ denk’ ich, ſo ferne ſie erkannt werden, befoͤrdern doch wohl eher Liebe, als Haß? Jch darf mich frey und kuͤhn auf meine eigne Erfahrung berufen — Je mehr ſich meine phyſiognomiſche Kenntniß erweitert und vervollkommnet, deſto weiter und kraͤftiger kann mein Herz lieben. Und wenn ich gleich durch eben dieſe Kenntniß bisweilen ſehr gedruͤckt werde, ſo bleibt’s dennoch wahr — Einmal — gerade dieſe Bedruͤckungen, die gewiſſe veraͤchtliche Geſichter mir verurſachen — machen mir natuͤrlicher Weiſe alles Edle, Liebenswuͤrdige, das ſo oft aus den menſchlichen Geſichtern nur wie Glut aus der Aſche hervorglimmt, um ſo viel theurer, heiliger, reizender — Jch trage mehr Sorge zu dem wenigen Guten, das ich bemerke; ſuche meine Wirk- ſamkeit auf dieſen Punkt zu richten — Hier Land zu bauen, und zu gewinnen — und wo ich Ueber- gewicht von Guͤte und Kraft wahrnehme — wie muß da meine Achtung und Liebe von ſelbſt ſich hinwurzeln und ausbreiten! — Und dann — der genaue Anblick ſelbſt derer, die mich druͤcken und einige Augenblicke uͤber die Menſchheit ergrimmen laſſen, — macht mich gleich hernach wiederum toleranter gegen ſie, weil ich das Gewicht und die Art von Sinnlichkeit, welche ſie zu bekaͤmpfen haben, anſchauend erkenne. Alle Wahrheit, alle Kenntniß deſſen, was iſt, was auf uns wirkt, worauf wir wirken, nuͤtzt, und befoͤrdert Gluͤckſeligkeit — macht einzelne Menſchen gluͤcklicher — wer das laͤugnet, kann nie, ſoll nie unterſuchen. Je vollkommener die Kenntniß, deſto groͤßer der Nutzen. Was nuͤtzt und Gluͤckſeligkeit befoͤrdert, befoͤrdert Menſchenliebe. Gluͤckliche Men- ſchen ohne Menſchenliebe — wo ſind ſie? wo moͤglich? Wenn A 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/21>, abgerufen am 23.04.2024.