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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Vorrede.

Wer weiß, daß er Wahrheit schreibt, nützliche Wahrheit, die immer offen-
barer werden muß,
und jemehr sie offenbar wird, den Vater der Wahrheit
verherrlicht,
der kann Widerspruch dulden, um der Wahrheit willen leiden, und
freut sich der Ehre. Jch denke meine Geschichte rechtfertigt diesen Eingang.

Jn die Sinne fallenders, untersuchbarers ist wol nichts als die Physiogno-
mie des Menschen. Jch untersuche, und bestrebe mich, meine Untersuchungen
aufs genaueste und bestimmteste mit Worten und Zeichnungen darzustellen. Will-
kommen sey mir jeder Freund der Wahrheit, der mir mit Gründen und Zeich-
nungen
beweißt, daß ich irre; sogleich werde ich meine Meynung ändern. Denn
ich glaube, der ist ein Grundbösewicht, der der zweyten bessern Ueberzeugung seine
erste nicht aufopfert. Aber es giebt Ueberzeugungen, die sich nicht ändern lassen.
Den Glauben an die Physiognomie überhaupt, werd' ich nie ändern. Diese
Ueberzeugung von der Wahrheit der Physiognomie geht bey mir mit der vom Da-
seyn menschlicher Gesichter außer mir in gleichem Schritte. Daß ich in besondern
Urtheilen über Gesichter irre, gestand ich häufig -- und es kann mir allenfalls
alle Tage leicht bewiesen werden. Aber daß die Physiognomie an sich irre macht,
weiß ich, kann nicht bewiesen werden; so wenig bewiesen werden kann, daß das
Auge nicht zum Sehen, die Nase nicht zum Riechen, der Mund nicht zum Spre-
chen gegeben seyn.

Die größten Antiphysiognomiker widersprechen sich alle Augenblicke selber.

Auch hat noch keiner, meines Wissens, meinen vorgelegten Beobachtun-
gen
und Erfahrungen andere entscheidende entgegen gesetzt. --

Spötter


Vorrede.

Wer weiß, daß er Wahrheit ſchreibt, nuͤtzliche Wahrheit, die immer offen-
barer werden muß,
und jemehr ſie offenbar wird, den Vater der Wahrheit
verherrlicht,
der kann Widerſpruch dulden, um der Wahrheit willen leiden, und
freut ſich der Ehre. Jch denke meine Geſchichte rechtfertigt dieſen Eingang.

Jn die Sinne fallenders, unterſuchbarers iſt wol nichts als die Phyſiogno-
mie des Menſchen. Jch unterſuche, und beſtrebe mich, meine Unterſuchungen
aufs genaueſte und beſtimmteſte mit Worten und Zeichnungen darzuſtellen. Will-
kommen ſey mir jeder Freund der Wahrheit, der mir mit Gruͤnden und Zeich-
nungen
beweißt, daß ich irre; ſogleich werde ich meine Meynung aͤndern. Denn
ich glaube, der iſt ein Grundboͤſewicht, der der zweyten beſſern Ueberzeugung ſeine
erſte nicht aufopfert. Aber es giebt Ueberzeugungen, die ſich nicht aͤndern laſſen.
Den Glauben an die Phyſiognomie uͤberhaupt, werd’ ich nie aͤndern. Dieſe
Ueberzeugung von der Wahrheit der Phyſiognomie geht bey mir mit der vom Da-
ſeyn menſchlicher Geſichter außer mir in gleichem Schritte. Daß ich in beſondern
Urtheilen uͤber Geſichter irre, geſtand ich haͤufig — und es kann mir allenfalls
alle Tage leicht bewieſen werden. Aber daß die Phyſiognomie an ſich irre macht,
weiß ich, kann nicht bewieſen werden; ſo wenig bewieſen werden kann, daß das
Auge nicht zum Sehen, die Naſe nicht zum Riechen, der Mund nicht zum Spre-
chen gegeben ſeyn.

Die groͤßten Antiphyſiognomiker widerſprechen ſich alle Augenblicke ſelber.

Auch hat noch keiner, meines Wiſſens, meinen vorgelegten Beobachtun-
gen
und Erfahrungen andere entſcheidende entgegen geſetzt. —

Spoͤtter
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[[VII]/0011] Vorrede. Wer weiß, daß er Wahrheit ſchreibt, nuͤtzliche Wahrheit, die immer offen- barer werden muß, und jemehr ſie offenbar wird, den Vater der Wahrheit verherrlicht, der kann Widerſpruch dulden, um der Wahrheit willen leiden, und freut ſich der Ehre. Jch denke meine Geſchichte rechtfertigt dieſen Eingang. Jn die Sinne fallenders, unterſuchbarers iſt wol nichts als die Phyſiogno- mie des Menſchen. Jch unterſuche, und beſtrebe mich, meine Unterſuchungen aufs genaueſte und beſtimmteſte mit Worten und Zeichnungen darzuſtellen. Will- kommen ſey mir jeder Freund der Wahrheit, der mir mit Gruͤnden und Zeich- nungen beweißt, daß ich irre; ſogleich werde ich meine Meynung aͤndern. Denn ich glaube, der iſt ein Grundboͤſewicht, der der zweyten beſſern Ueberzeugung ſeine erſte nicht aufopfert. Aber es giebt Ueberzeugungen, die ſich nicht aͤndern laſſen. Den Glauben an die Phyſiognomie uͤberhaupt, werd’ ich nie aͤndern. Dieſe Ueberzeugung von der Wahrheit der Phyſiognomie geht bey mir mit der vom Da- ſeyn menſchlicher Geſichter außer mir in gleichem Schritte. Daß ich in beſondern Urtheilen uͤber Geſichter irre, geſtand ich haͤufig — und es kann mir allenfalls alle Tage leicht bewieſen werden. Aber daß die Phyſiognomie an ſich irre macht, weiß ich, kann nicht bewieſen werden; ſo wenig bewieſen werden kann, daß das Auge nicht zum Sehen, die Naſe nicht zum Riechen, der Mund nicht zum Spre- chen gegeben ſeyn. Die groͤßten Antiphyſiognomiker widerſprechen ſich alle Augenblicke ſelber. Auch hat noch keiner, meines Wiſſens, meinen vorgelegten Beobachtun- gen und Erfahrungen andere entſcheidende entgegen geſetzt. — Spoͤtter

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. [VII]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/11>, abgerufen am 29.03.2024.