Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorrede.
müsse. Man hat es schon unzählige male ge-
sagt. Jeder Mensch hat in einem größern oder
kleinern Grade die dazu erforderlichen Kräfte
des Verstandes. Es ist natürlich, daß sie ihm
gegeben sind, um sie wirklich zu gebrauchen.
Der Verstand selbst beruhigt sich bey Zweifeln
und Ungewißheit nicht. Es ist natürlich, daß
er suche, Gewißheit zu finden. Man weiß,
daß man sich bey dem Jrrthum zuletzt nur be-
trogen findet. Es ist natürlich, daß man su-
che, ihn zu vermeyden.

Alles dieses fällt von selbst in die Augen.
Durchgeht man aber die menschliche Erkennt-
nis, und besonders die Lehrgebäude der Welt-
weisen jeder Zeiten und jeder Länder, so findet
man sie in den meisten Stücken lange nicht so
übereinstimmend, als man es von so vielen Be-
weggründen erwarten sollte. Und da die
Wahrheit einförmig und unveränderlich ist, so
findet man dagegen, daß sich die menschlichen
Meynungen fast der Wahrheit zum Trotz, wie
die Moden in der Kleidung ändern, und die Ge-
schichte der Weltweisheit belehrt uns, daß es
den Lehrgebäuden der Weltweisen, welche doch
aus der Erforschung der Wahrheit ihre Haupt-
beschäftigung machen, eben nicht viel besser er-
gangen. Man kann den Aristoteles, Gassendi,
Cartesius, Newton, Leibniz, Wolf etc. in vielen
Hauptstücken, die Jdealisten, Materialisten,
Zweifler, Fatalisten etc. aber bald durchaus ein-
ander entgegen setzen.

Betrach-

Vorrede.
muͤſſe. Man hat es ſchon unzaͤhlige male ge-
ſagt. Jeder Menſch hat in einem groͤßern oder
kleinern Grade die dazu erforderlichen Kraͤfte
des Verſtandes. Es iſt natuͤrlich, daß ſie ihm
gegeben ſind, um ſie wirklich zu gebrauchen.
Der Verſtand ſelbſt beruhigt ſich bey Zweifeln
und Ungewißheit nicht. Es iſt natuͤrlich, daß
er ſuche, Gewißheit zu finden. Man weiß,
daß man ſich bey dem Jrrthum zuletzt nur be-
trogen findet. Es iſt natuͤrlich, daß man ſu-
che, ihn zu vermeyden.

Alles dieſes faͤllt von ſelbſt in die Augen.
Durchgeht man aber die menſchliche Erkennt-
nis, und beſonders die Lehrgebaͤude der Welt-
weiſen jeder Zeiten und jeder Laͤnder, ſo findet
man ſie in den meiſten Stuͤcken lange nicht ſo
uͤbereinſtimmend, als man es von ſo vielen Be-
weggruͤnden erwarten ſollte. Und da die
Wahrheit einfoͤrmig und unveraͤnderlich iſt, ſo
findet man dagegen, daß ſich die menſchlichen
Meynungen faſt der Wahrheit zum Trotz, wie
die Moden in der Kleidung aͤndern, und die Ge-
ſchichte der Weltweisheit belehrt uns, daß es
den Lehrgebaͤuden der Weltweiſen, welche doch
aus der Erforſchung der Wahrheit ihre Haupt-
beſchaͤftigung machen, eben nicht viel beſſer er-
gangen. Man kann den Ariſtoteles, Gaſſendi,
Carteſius, Newton, Leibniz, Wolf ꝛc. in vielen
Hauptſtuͤcken, die Jdealiſten, Materialiſten,
Zweifler, Fataliſten ꝛc. aber bald durchaus ein-
ander entgegen ſetzen.

Betrach-
<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0008"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Vorrede</hi>.</hi></fw><lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. Man hat es &#x017F;chon unza&#x0364;hlige male ge-<lb/>
&#x017F;agt. Jeder Men&#x017F;ch hat in einem gro&#x0364;ßern oder<lb/>
kleinern Grade die dazu erforderlichen Kra&#x0364;fte<lb/>
des Ver&#x017F;tandes. Es i&#x017F;t natu&#x0364;rlich, daß &#x017F;ie ihm<lb/>
gegeben &#x017F;ind, um &#x017F;ie wirklich zu gebrauchen.<lb/>
Der Ver&#x017F;tand &#x017F;elb&#x017F;t beruhigt &#x017F;ich bey Zweifeln<lb/>
und Ungewißheit nicht. Es i&#x017F;t natu&#x0364;rlich, daß<lb/>
er &#x017F;uche, Gewißheit zu finden. Man weiß,<lb/>
daß man &#x017F;ich bey dem Jrrthum zuletzt nur be-<lb/>
trogen findet. Es i&#x017F;t natu&#x0364;rlich, daß man &#x017F;u-<lb/>
che, ihn zu vermeyden.</p><lb/>
        <p>Alles die&#x017F;es fa&#x0364;llt von &#x017F;elb&#x017F;t in die Augen.<lb/>
Durchgeht man aber die men&#x017F;chliche Erkennt-<lb/>
nis, und be&#x017F;onders die Lehrgeba&#x0364;ude der Welt-<lb/>
wei&#x017F;en jeder Zeiten und jeder La&#x0364;nder, &#x017F;o findet<lb/>
man &#x017F;ie in den mei&#x017F;ten Stu&#x0364;cken lange nicht &#x017F;o<lb/>
u&#x0364;berein&#x017F;timmend, als man es von &#x017F;o vielen Be-<lb/>
weggru&#x0364;nden erwarten &#x017F;ollte. Und da die<lb/>
Wahrheit einfo&#x0364;rmig und unvera&#x0364;nderlich i&#x017F;t, &#x017F;o<lb/>
findet man dagegen, daß &#x017F;ich die men&#x017F;chlichen<lb/>
Meynungen fa&#x017F;t der Wahrheit zum Trotz, wie<lb/>
die Moden in der Kleidung a&#x0364;ndern, und die Ge-<lb/>
&#x017F;chichte der Weltweisheit belehrt uns, daß es<lb/>
den Lehrgeba&#x0364;uden der Weltwei&#x017F;en, welche doch<lb/>
aus der Erfor&#x017F;chung der Wahrheit ihre Haupt-<lb/>
be&#x017F;cha&#x0364;ftigung machen, eben nicht viel be&#x017F;&#x017F;er er-<lb/>
gangen. Man kann den Ari&#x017F;toteles, Ga&#x017F;&#x017F;endi,<lb/>
Carte&#x017F;ius, Newton, Leibniz, Wolf &#xA75B;c. in vielen<lb/>
Haupt&#x017F;tu&#x0364;cken, die Jdeali&#x017F;ten, Materiali&#x017F;ten,<lb/>
Zweifler, Fatali&#x017F;ten &#xA75B;c. aber bald durchaus ein-<lb/>
ander entgegen &#x017F;etzen.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Betrach-</fw><lb/>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[0008] Vorrede. muͤſſe. Man hat es ſchon unzaͤhlige male ge- ſagt. Jeder Menſch hat in einem groͤßern oder kleinern Grade die dazu erforderlichen Kraͤfte des Verſtandes. Es iſt natuͤrlich, daß ſie ihm gegeben ſind, um ſie wirklich zu gebrauchen. Der Verſtand ſelbſt beruhigt ſich bey Zweifeln und Ungewißheit nicht. Es iſt natuͤrlich, daß er ſuche, Gewißheit zu finden. Man weiß, daß man ſich bey dem Jrrthum zuletzt nur be- trogen findet. Es iſt natuͤrlich, daß man ſu- che, ihn zu vermeyden. Alles dieſes faͤllt von ſelbſt in die Augen. Durchgeht man aber die menſchliche Erkennt- nis, und beſonders die Lehrgebaͤude der Welt- weiſen jeder Zeiten und jeder Laͤnder, ſo findet man ſie in den meiſten Stuͤcken lange nicht ſo uͤbereinſtimmend, als man es von ſo vielen Be- weggruͤnden erwarten ſollte. Und da die Wahrheit einfoͤrmig und unveraͤnderlich iſt, ſo findet man dagegen, daß ſich die menſchlichen Meynungen faſt der Wahrheit zum Trotz, wie die Moden in der Kleidung aͤndern, und die Ge- ſchichte der Weltweisheit belehrt uns, daß es den Lehrgebaͤuden der Weltweiſen, welche doch aus der Erforſchung der Wahrheit ihre Haupt- beſchaͤftigung machen, eben nicht viel beſſer er- gangen. Man kann den Ariſtoteles, Gaſſendi, Carteſius, Newton, Leibniz, Wolf ꝛc. in vielen Hauptſtuͤcken, die Jdealiſten, Materialiſten, Zweifler, Fataliſten ꝛc. aber bald durchaus ein- ander entgegen ſetzen. Betrach-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/8
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/8>, abgerufen am 23.04.2024.