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Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816.

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Ob er die Kleider vor seiner Abreise von Etzels Burg oder
erst auf der Reise bekommen, ist nicht deutlich, 13) und,
wie man wohl sieht, durch die Erwähnung Wiens alles et-
was in Unordnung und Verwirrung gerathen, so daß selbst
nicht mehr klar ist, ob Rüdiger nach sieben Tagen abge-
reist oder in sieben Tagen nach Bechlaren gekommen sei,
und erst die Klage völligen Aufschluß darüber gibt, in der
(Z. 4428) Dieterich am siebenten Morgen in Bechlaren an-
langt. Wie viel aber in dieser Stelle neu sei, und ob
nicht hier vielleicht etwas Neues an die Stelle des Alten
gesetzt worden, wage ich nicht zu entscheiden.

Eben dies muß ich von der anderen Stelle sagen, wo
Etzel sein Beilager mit Kriemhilden zu Wien hält. Hier
wird Wien dreimahl (Z. 5458. 5475. 5513.) namentlich an-
geführt. Man wird ohne Zweifel annehmen müssen, daß
auch hier Einiges eingefügt sei: doch wüßte ich keine
sichere Spur der Interpolation anzugeben 14).

Es können vielleicht einst noch mehrere den bisher ge-
führten ähnliche Untersuchungen angestellt werden, wenn
es sich wird möglich machen lassen, die Unterschiede der
Sitten in dem Zeitraum zwischen dem zehnten und drei-
zehnten Jahrhundert genau zu erkennen; denn vermuthlich
werden sich aus einer solchen Vergleichung noch manche
neuere Zusätze in unserem Liede ergeben. Man hat auch
die Stellen, die sich auf das Christenthum beziehen, späte-
rer Zeit zuschreiben wollen: allein ich habe nirgend ein
ein Zeichen gefunden, woran sie sich als neuer eingefügt
erkennen ließen, obwohl es wahr ist, daß nirgend 15) das
Christliche hervortritt und auch nach der Beschaffenheit
der Fabel nicht oft und nicht sehr bedeutend hervortreten
kann 16).

Ob er die Kleider vor ſeiner Abreiſe von Etzels Burg oder
erſt auf der Reiſe bekommen, iſt nicht deutlich, 13) und,
wie man wohl ſieht, durch die Erwähnung Wiens alles et-
was in Unordnung und Verwirrung gerathen, ſo daß ſelbſt
nicht mehr klar iſt, ob Rüdiger nach ſieben Tagen abge-
reiſt oder in ſieben Tagen nach Bechlaren gekommen ſei,
und erſt die Klage völligen Aufſchluß darüber gibt, in der
(Z. 4428) Dieterich am ſiebenten Morgen in Bechlaren an-
langt. Wie viel aber in dieſer Stelle neu ſei, und ob
nicht hier vielleicht etwas Neues an die Stelle des Alten
geſetzt worden, wage ich nicht zu entſcheiden.

Eben dies muß ich von der anderen Stelle ſagen, wo
Etzel ſein Beilager mit Kriemhilden zu Wien hält. Hier
wird Wien dreimahl (Z. 5458. 5475. 5513.) namentlich an-
geführt. Man wird ohne Zweifel annehmen müſſen, daß
auch hier Einiges eingefügt ſei: doch wüßte ich keine
ſichere Spur der Interpolation anzugeben 14).

Es können vielleicht einſt noch mehrere den bisher ge-
führten ähnliche Unterſuchungen angeſtellt werden, wenn
es ſich wird möglich machen laſſen, die Unterſchiede der
Sitten in dem Zeitraum zwiſchen dem zehnten und drei-
zehnten Jahrhundert genau zu erkennen; denn vermuthlich
werden ſich aus einer ſolchen Vergleichung noch manche
neuere Zuſätze in unſerem Liede ergeben. Man hat auch
die Stellen, die ſich auf das Chriſtenthum beziehen, ſpäte-
rer Zeit zuſchreiben wollen: allein ich habe nirgend ein
ein Zeichen gefunden, woran ſie ſich als neuer eingefügt
erkennen ließen, obwohl es wahr iſt, daß nirgend 15) das
Chriſtliche hervortritt und auch nach der Beſchaffenheit
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kann 16).

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[23/0031] Ob er die Kleider vor ſeiner Abreiſe von Etzels Burg oder erſt auf der Reiſe bekommen, iſt nicht deutlich, ¹³⁾ und, wie man wohl ſieht, durch die Erwähnung Wiens alles et- was in Unordnung und Verwirrung gerathen, ſo daß ſelbſt nicht mehr klar iſt, ob Rüdiger nach ſieben Tagen abge- reiſt oder in ſieben Tagen nach Bechlaren gekommen ſei, und erſt die Klage völligen Aufſchluß darüber gibt, in der (Z. 4428) Dieterich am ſiebenten Morgen in Bechlaren an- langt. Wie viel aber in dieſer Stelle neu ſei, und ob nicht hier vielleicht etwas Neues an die Stelle des Alten geſetzt worden, wage ich nicht zu entſcheiden. Eben dies muß ich von der anderen Stelle ſagen, wo Etzel ſein Beilager mit Kriemhilden zu Wien hält. Hier wird Wien dreimahl (Z. 5458. 5475. 5513.) namentlich an- geführt. Man wird ohne Zweifel annehmen müſſen, daß auch hier Einiges eingefügt ſei: doch wüßte ich keine ſichere Spur der Interpolation anzugeben ¹⁴⁾ . Es können vielleicht einſt noch mehrere den bisher ge- führten ähnliche Unterſuchungen angeſtellt werden, wenn es ſich wird möglich machen laſſen, die Unterſchiede der Sitten in dem Zeitraum zwiſchen dem zehnten und drei- zehnten Jahrhundert genau zu erkennen; denn vermuthlich werden ſich aus einer ſolchen Vergleichung noch manche neuere Zuſätze in unſerem Liede ergeben. Man hat auch die Stellen, die ſich auf das Chriſtenthum beziehen, ſpäte- rer Zeit zuſchreiben wollen: allein ich habe nirgend ein ein Zeichen gefunden, woran ſie ſich als neuer eingefügt erkennen ließen, obwohl es wahr iſt, daß nirgend ¹⁵⁾ das Chriſtliche hervortritt und auch nach der Beſchaffenheit der Fabel nicht oft und nicht ſehr bedeutend hervortreten kann ¹⁶⁾ .

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Zitationshilfe: Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lachmann_nibelungen_1816/31>, abgerufen am 20.04.2024.