Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kruse, Laurids: Nordische Freundschaft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

laut, daß dieser verdrießliche Vorfall den braven Holger nothwendig einiger Zahlen zu seinem Charakter berauben müsse, weil es unmöglich sei, in der kurzen Zeit eine neue Zeichnung von Bedeutung auszuführen; doch, fügte er hinzu, es ist eine Tücke des Geschicks, der jeglicher Sterbliche unterworfen ist, und um so höher ist der Mann zu achten, der mit Muth das Unvermeidliche zu ertragen weiß, und selbst zu bewundren, je früher er sich beherrschen und sich über die Selbstsucht erheben lernt.

Da stieß John Holger zum zweiten Male an und machte ihn darauf aufmerksam, wie eine flüchtige Röthe glühend über Woldemar's bleiche Wangen hinzog. Jetzt regte sich auch in ihm ein schneller Verdacht; allein die Worte seines Chefs erwägend, beherrschte sich der Jüngling und verbannte entschlossen diese häßliche Empfindung.

Zwei Tage nachher trug sich ein neuer Vorfall zu, der fast noch größere Aufmerksamkeit erregte. In einer Stunde, wo beinahe alle Gefährten und Lehrer in dem Saale versammelt waren, trat Woldemar mit seinem Zeichenbrette hinein und erzählte laut, aber auf eine kalte ruhige Weise, die freilich mit Holger's vorhergehender Heftigkeit stark contrastirte, daß er so eben seine Zeichnung mit einem Federmesser ganz zerschnitten in seinem Zimmer gefunden, und zeigte die zerstörten Ueberreste vor.

Alle erstaunten aufs Neue; es wurde dem Chef

laut, daß dieser verdrießliche Vorfall den braven Holger nothwendig einiger Zahlen zu seinem Charakter berauben müsse, weil es unmöglich sei, in der kurzen Zeit eine neue Zeichnung von Bedeutung auszuführen; doch, fügte er hinzu, es ist eine Tücke des Geschicks, der jeglicher Sterbliche unterworfen ist, und um so höher ist der Mann zu achten, der mit Muth das Unvermeidliche zu ertragen weiß, und selbst zu bewundren, je früher er sich beherrschen und sich über die Selbstsucht erheben lernt.

Da stieß John Holger zum zweiten Male an und machte ihn darauf aufmerksam, wie eine flüchtige Röthe glühend über Woldemar's bleiche Wangen hinzog. Jetzt regte sich auch in ihm ein schneller Verdacht; allein die Worte seines Chefs erwägend, beherrschte sich der Jüngling und verbannte entschlossen diese häßliche Empfindung.

Zwei Tage nachher trug sich ein neuer Vorfall zu, der fast noch größere Aufmerksamkeit erregte. In einer Stunde, wo beinahe alle Gefährten und Lehrer in dem Saale versammelt waren, trat Woldemar mit seinem Zeichenbrette hinein und erzählte laut, aber auf eine kalte ruhige Weise, die freilich mit Holger's vorhergehender Heftigkeit stark contrastirte, daß er so eben seine Zeichnung mit einem Federmesser ganz zerschnitten in seinem Zimmer gefunden, und zeigte die zerstörten Ueberreste vor.

Alle erstaunten aufs Neue; es wurde dem Chef

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0016"/>
laut, daß dieser      verdrießliche Vorfall den braven Holger nothwendig einiger Zahlen zu seinem Charakter berauben      müsse, weil es unmöglich sei, in der kurzen Zeit eine neue Zeichnung von Bedeutung auszuführen;      doch, fügte er hinzu, es ist eine Tücke des Geschicks, der jeglicher Sterbliche unterworfen      ist, und um so höher ist der Mann zu achten, der mit Muth das Unvermeidliche zu ertragen weiß,      und selbst zu bewundren, je früher er sich beherrschen und sich über die Selbstsucht erheben      lernt.</p><lb/>
        <p>Da stieß John Holger zum zweiten Male an und machte ihn darauf aufmerksam, wie eine flüchtige      Röthe glühend über Woldemar's bleiche Wangen hinzog. Jetzt regte sich auch in ihm ein schneller      Verdacht; allein die Worte seines Chefs erwägend, beherrschte sich der Jüngling und verbannte      entschlossen diese häßliche Empfindung.</p><lb/>
        <p>Zwei Tage nachher trug sich ein neuer Vorfall zu, der fast noch größere Aufmerksamkeit      erregte. In einer Stunde, wo beinahe alle Gefährten und Lehrer in dem Saale versammelt waren,      trat Woldemar mit seinem Zeichenbrette hinein und erzählte laut, aber auf eine kalte ruhige      Weise, die freilich mit Holger's vorhergehender Heftigkeit stark contrastirte, daß er so eben      seine Zeichnung mit einem Federmesser ganz zerschnitten in seinem Zimmer gefunden, und zeigte      die zerstörten Ueberreste vor.</p><lb/>
        <p>Alle erstaunten aufs Neue; es wurde dem Chef<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0016] laut, daß dieser verdrießliche Vorfall den braven Holger nothwendig einiger Zahlen zu seinem Charakter berauben müsse, weil es unmöglich sei, in der kurzen Zeit eine neue Zeichnung von Bedeutung auszuführen; doch, fügte er hinzu, es ist eine Tücke des Geschicks, der jeglicher Sterbliche unterworfen ist, und um so höher ist der Mann zu achten, der mit Muth das Unvermeidliche zu ertragen weiß, und selbst zu bewundren, je früher er sich beherrschen und sich über die Selbstsucht erheben lernt. Da stieß John Holger zum zweiten Male an und machte ihn darauf aufmerksam, wie eine flüchtige Röthe glühend über Woldemar's bleiche Wangen hinzog. Jetzt regte sich auch in ihm ein schneller Verdacht; allein die Worte seines Chefs erwägend, beherrschte sich der Jüngling und verbannte entschlossen diese häßliche Empfindung. Zwei Tage nachher trug sich ein neuer Vorfall zu, der fast noch größere Aufmerksamkeit erregte. In einer Stunde, wo beinahe alle Gefährten und Lehrer in dem Saale versammelt waren, trat Woldemar mit seinem Zeichenbrette hinein und erzählte laut, aber auf eine kalte ruhige Weise, die freilich mit Holger's vorhergehender Heftigkeit stark contrastirte, daß er so eben seine Zeichnung mit einem Federmesser ganz zerschnitten in seinem Zimmer gefunden, und zeigte die zerstörten Ueberreste vor. Alle erstaunten aufs Neue; es wurde dem Chef

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:52:36Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:52:36Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kruse_freundschaft_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kruse_freundschaft_1910/16
Zitationshilfe: Kruse, Laurids: Nordische Freundschaft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kruse_freundschaft_1910/16>, abgerufen am 20.04.2024.