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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892.

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lich, die Methoden für eine exacte Feststellung der psychischen
Arzneimittelwirkungen nach einigen Richtungen hin auszubilden und
die Möglichkeit ihrer praktischen Anwendung, sowie die Brauchbarkeit
ihrer Ergebnisse an den ausgewählten Beispielen darzulegen. Nur
eine Frage von allgemeinerer pharmakologischer Bedeutung ist es
noch, die ich hier zum Schlusse kurz berühren möchte, weil ich sie
bei der Mittheilung meiner ersten Versuche selbst aufgeworfen habe.
Die Erfahrungen bei den Inhalationsstoffen, wie auch später beim Al-
kohol legten die Annahme nahe, dass unser Centralorgan auf toxische
Einflüsse regelmässig in zwei verschiedenen, aufeinanderfolgenden
Phasen reagire, einer solchen der Erregung und einer solchen der Ab-
stumpfung oder Hemmung. Dieser Möglichkeit stand die andere gegen-
über, dass der Ablauf der psychischen Beeinflussung nicht in all-
gemeinen Eigenschaften unseres Centralorganes, sondern in den besonderen
Eigenthümlichkeiten der untersuchten Gifte seine Ursache habe. Schon
Cervello und Coppola haben auf Grund ihrer Versuche über
Chloralhydrat und Paraldehyd diese Alternative in letzterem Sinne
beantwortet, und ein Blick auf unsere Curventafel wird darthun, dass
der Verlauf in entgegengesetzten Stadien wesentlich eine Zufälligkeit
ist, welche zumeist durch das theilweise Uebereinandergreifen ver-
schiedenartiger Vorgänge bedingt wird. Nur an einzelnen Punkten,
namentlich bei der motorischen Wirkung kleinerer Alkoholgaben, haben
wir es wirklich mit einer Aufeinanderfolge von Erregung und Läh-
mung zu thun, eine Erscheinung, die wol einfach durch eine fort-
schreitende Steigerung des Gifteinflusses zu erklären ist.

Auf der andern Seite aber hat sich uns fast überall ein gewisser
Gegensatz in der Beeinflussung der verschiedenen Richtungen unseres
Seelenlebens dargeboten. Erleichterung der centralen motorischen
Auslösung verbindet sich gewöhnlich mit Erschwerung der Auffassung
und geistigen Verarbeitung und umgekehrt. Wohlkönnen bei schwerer
Vergiftung beide Gruppen von psychischen Vorgängen gelähmt sein,
aber wir haben bisher kein Mittel gefunden, welches beide gleichzeitig
erleichtert. Auf diese Weise also hat sich der früher aufgestellte
Gegensatz der Stadien in einen Gegensatz der Functionen um-
gewandelt. Es muss dahingestellt bleiben, ob diese Auffassung bei
weiterer Prüfung anderer wirksamer Stoffe sich durchgängig bestätigt;
beachtenswert ist das Ergebniss jedenfalls schon jetzt. Wir nähern
uns damit, wie ich früher im Einzelnen ausgeführt habe, den vielfach
verbreiteten Vorstellungen von einem physiologischen Antagonismus
zwischen verschiedenartigen Functionen unseres Centralorgans. Die

lich, die Methoden für eine exacte Feststellung der psychischen
Arzneimittelwirkungen nach einigen Richtungen hin auszubilden und
die Möglichkeit ihrer praktischen Anwendung, sowie die Brauchbarkeit
ihrer Ergebnisse an den ausgewählten Beispielen darzulegen. Nur
eine Frage von allgemeinerer pharmakologischer Bedeutung ist es
noch, die ich hier zum Schlusse kurz berühren möchte, weil ich sie
bei der Mittheilung meiner ersten Versuche selbst aufgeworfen habe.
Die Erfahrungen bei den Inhalationsstoffen, wie auch später beim Al-
kohol legten die Annahme nahe, dass unser Centralorgan auf toxische
Einflüsse regelmässig in zwei verschiedenen, aufeinanderfolgenden
Phasen reagire, einer solchen der Erregung und einer solchen der Ab-
stumpfung oder Hemmung. Dieser Möglichkeit stand die andere gegen-
über, dass der Ablauf der psychischen Beeinflussung nicht in all-
gemeinen Eigenschaften unseres Centralorganes, sondern in den besonderen
Eigenthümlichkeiten der untersuchten Gifte seine Ursache habe. Schon
Cervello und Coppola haben auf Grund ihrer Versuche über
Chloralhydrat und Paraldehyd diese Alternative in letzterem Sinne
beantwortet, und ein Blick auf unsere Curventafel wird darthun, dass
der Verlauf in entgegengesetzten Stadien wesentlich eine Zufälligkeit
ist, welche zumeist durch das theilweise Uebereinandergreifen ver-
schiedenartiger Vorgänge bedingt wird. Nur an einzelnen Punkten,
namentlich bei der motorischen Wirkung kleinerer Alkoholgaben, haben
wir es wirklich mit einer Aufeinanderfolge von Erregung und Läh-
mung zu thun, eine Erscheinung, die wol einfach durch eine fort-
schreitende Steigerung des Gifteinflusses zu erklären ist.

Auf der andern Seite aber hat sich uns fast überall ein gewisser
Gegensatz in der Beeinflussung der verschiedenen Richtungen unseres
Seelenlebens dargeboten. Erleichterung der centralen motorischen
Auslösung verbindet sich gewöhnlich mit Erschwerung der Auffassung
und geistigen Verarbeitung und umgekehrt. Wohlkönnen bei schwerer
Vergiftung beide Gruppen von psychischen Vorgängen gelähmt sein,
aber wir haben bisher kein Mittel gefunden, welches beide gleichzeitig
erleichtert. Auf diese Weise also hat sich der früher aufgestellte
Gegensatz der Stadien in einen Gegensatz der Functionen um-
gewandelt. Es muss dahingestellt bleiben, ob diese Auffassung bei
weiterer Prüfung anderer wirksamer Stoffe sich durchgängig bestätigt;
beachtenswert ist das Ergebniss jedenfalls schon jetzt. Wir nähern
uns damit, wie ich früher im Einzelnen ausgeführt habe, den vielfach
verbreiteten Vorstellungen von einem physiologischen Antagonismus
zwischen verschiedenartigen Functionen unseres Centralorgans. Die

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[230/0246] lich, die Methoden für eine exacte Feststellung der psychischen Arzneimittelwirkungen nach einigen Richtungen hin auszubilden und die Möglichkeit ihrer praktischen Anwendung, sowie die Brauchbarkeit ihrer Ergebnisse an den ausgewählten Beispielen darzulegen. Nur eine Frage von allgemeinerer pharmakologischer Bedeutung ist es noch, die ich hier zum Schlusse kurz berühren möchte, weil ich sie bei der Mittheilung meiner ersten Versuche selbst aufgeworfen habe. Die Erfahrungen bei den Inhalationsstoffen, wie auch später beim Al- kohol legten die Annahme nahe, dass unser Centralorgan auf toxische Einflüsse regelmässig in zwei verschiedenen, aufeinanderfolgenden Phasen reagire, einer solchen der Erregung und einer solchen der Ab- stumpfung oder Hemmung. Dieser Möglichkeit stand die andere gegen- über, dass der Ablauf der psychischen Beeinflussung nicht in all- gemeinen Eigenschaften unseres Centralorganes, sondern in den besonderen Eigenthümlichkeiten der untersuchten Gifte seine Ursache habe. Schon Cervello und Coppola haben auf Grund ihrer Versuche über Chloralhydrat und Paraldehyd diese Alternative in letzterem Sinne beantwortet, und ein Blick auf unsere Curventafel wird darthun, dass der Verlauf in entgegengesetzten Stadien wesentlich eine Zufälligkeit ist, welche zumeist durch das theilweise Uebereinandergreifen ver- schiedenartiger Vorgänge bedingt wird. Nur an einzelnen Punkten, namentlich bei der motorischen Wirkung kleinerer Alkoholgaben, haben wir es wirklich mit einer Aufeinanderfolge von Erregung und Läh- mung zu thun, eine Erscheinung, die wol einfach durch eine fort- schreitende Steigerung des Gifteinflusses zu erklären ist. Auf der andern Seite aber hat sich uns fast überall ein gewisser Gegensatz in der Beeinflussung der verschiedenen Richtungen unseres Seelenlebens dargeboten. Erleichterung der centralen motorischen Auslösung verbindet sich gewöhnlich mit Erschwerung der Auffassung und geistigen Verarbeitung und umgekehrt. Wohlkönnen bei schwerer Vergiftung beide Gruppen von psychischen Vorgängen gelähmt sein, aber wir haben bisher kein Mittel gefunden, welches beide gleichzeitig erleichtert. Auf diese Weise also hat sich der früher aufgestellte Gegensatz der Stadien in einen Gegensatz der Functionen um- gewandelt. Es muss dahingestellt bleiben, ob diese Auffassung bei weiterer Prüfung anderer wirksamer Stoffe sich durchgängig bestätigt; beachtenswert ist das Ergebniss jedenfalls schon jetzt. Wir nähern uns damit, wie ich früher im Einzelnen ausgeführt habe, den vielfach verbreiteten Vorstellungen von einem physiologischen Antagonismus zwischen verschiedenartigen Functionen unseres Centralorgans. Die

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Zitationshilfe: Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/246>, abgerufen am 24.04.2024.