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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892.

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suche die Fälle sein könnten, in denen der Genuss des Alkohols aus
psychischen Gründen
nützlich erscheint. Der erste Schluss, den
wir aus unseren Erfahrungen ableiten müssen, ist die Forderung, über-
all nur mit sehr kleinen Dosen vorzugehen, da sonst sofort die Läh-
mungserscheinungen in den Vordergrund treten. Diese letzteren könnte
man höchstens zur Erzielung von Ruhe und Schlaf hervorrufen,
wie es auch praktisch nicht ohne Erfolg geschieht. Zur Vermeidung
motorischer Reizwirkungen wäre hier eine einmalige grössere Gabe
(45--60 gr) angezeigt. Allerdings wissen wir noch nicht, wie weit
die so erzeugte Narkose wirklich den normalen Schlaf zu ersetzen
vermag.

Eine Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit wird man durch
den Alkohol nicht erreichen; selbst die Erleichterung des mechanischen
Auswendiglernens bei kleinen Dosen ist so vorübergehender Natur,
dass sie kaum verwerthbar erscheint, zumal noch nicht feststeht, ob
das rascher Erlernte auch mit genügender Sicherheit haftet. Dagegen
lässt sich nicht in Abrede stellen, dass die Anwendung des Alkohols
dort rationell wäre, wo es sich um eine einmalige stärkere mo-
torische Leistung
handelt, namentlich dann, wenn es weniger auf
einen grossen Kraftaufwand, als vielmehr auf die Ueberwindung natür-
licher oder unter Umständen krankhafter Hemmungen, auf rasche
Entschlossenheit ankommt. Diese Schlussfolgerung aus unsern Ver-
suchen deckt sich bekanntlich mit den Erfahrungen des täglichen
Lebens vollständig. Die Befangenheit des ungeübten Redners weicht
unter dem Einflusse des Alkohols, die Worte strömen ihm leichter zu.
In therapeutischer Beziehung will ich hier nur an die günstige Wir-
kung erinnern, welche kleinen Alkoholdosen in gewissen neurasthe-
nischen Zuständen, bei der Ueberwindung von Zwangsbefürchtungen
zukommt. Namentlich bei der Platzangst gelingt es durch Zuhülfe-
nahme jenes Mittels leichter, das Auftreten der quälenden Anfälle
zu verhindern, dadurch dem Kranken das verlorene Selbstvertrauen
zurückzuerobern und so den Boden für eine systematische Behandlung
des Leidens vorzubereiten.

Eine weitere psychische Indication des Alkohols lässt sich aus
seiner unzweifelhaften euphorischen Wirkung ableiten. Die
vorübergehende Beseitigung innerer Spannungen, wie die Abstumpfung
der Empfindlichkeit gegen deprimirende Einflüsse sind ebenso unzweifel-
hafte Erfahrungsthatsachen, wie leicht begreifliche Folgerungen aus den
Ergebnissen des Experimentes. Diese Wirkung kann aber thatsäch-
lich in vielen Lebenslagen eine ausserordentliche Wohlthat werden.

suche die Fälle sein könnten, in denen der Genuss des Alkohols aus
psychischen Gründen
nützlich erscheint. Der erste Schluss, den
wir aus unseren Erfahrungen ableiten müssen, ist die Forderung, über-
all nur mit sehr kleinen Dosen vorzugehen, da sonst sofort die Läh-
mungserscheinungen in den Vordergrund treten. Diese letzteren könnte
man höchstens zur Erzielung von Ruhe und Schlaf hervorrufen,
wie es auch praktisch nicht ohne Erfolg geschieht. Zur Vermeidung
motorischer Reizwirkungen wäre hier eine einmalige grössere Gabe
(45—60 gr) angezeigt. Allerdings wissen wir noch nicht, wie weit
die so erzeugte Narkose wirklich den normalen Schlaf zu ersetzen
vermag.

Eine Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit wird man durch
den Alkohol nicht erreichen; selbst die Erleichterung des mechanischen
Auswendiglernens bei kleinen Dosen ist so vorübergehender Natur,
dass sie kaum verwerthbar erscheint, zumal noch nicht feststeht, ob
das rascher Erlernte auch mit genügender Sicherheit haftet. Dagegen
lässt sich nicht in Abrede stellen, dass die Anwendung des Alkohols
dort rationell wäre, wo es sich um eine einmalige stärkere mo-
torische Leistung
handelt, namentlich dann, wenn es weniger auf
einen grossen Kraftaufwand, als vielmehr auf die Ueberwindung natür-
licher oder unter Umständen krankhafter Hemmungen, auf rasche
Entschlossenheit ankommt. Diese Schlussfolgerung aus unsern Ver-
suchen deckt sich bekanntlich mit den Erfahrungen des täglichen
Lebens vollständig. Die Befangenheit des ungeübten Redners weicht
unter dem Einflusse des Alkohols, die Worte strömen ihm leichter zu.
In therapeutischer Beziehung will ich hier nur an die günstige Wir-
kung erinnern, welche kleinen Alkoholdosen in gewissen neurasthe-
nischen Zuständen, bei der Ueberwindung von Zwangsbefürchtungen
zukommt. Namentlich bei der Platzangst gelingt es durch Zuhülfe-
nahme jenes Mittels leichter, das Auftreten der quälenden Anfälle
zu verhindern, dadurch dem Kranken das verlorene Selbstvertrauen
zurückzuerobern und so den Boden für eine systematische Behandlung
des Leidens vorzubereiten.

Eine weitere psychische Indication des Alkohols lässt sich aus
seiner unzweifelhaften euphorischen Wirkung ableiten. Die
vorübergehende Beseitigung innerer Spannungen, wie die Abstumpfung
der Empfindlichkeit gegen deprimirende Einflüsse sind ebenso unzweifel-
hafte Erfahrungsthatsachen, wie leicht begreifliche Folgerungen aus den
Ergebnissen des Experimentes. Diese Wirkung kann aber thatsäch-
lich in vielen Lebenslagen eine ausserordentliche Wohlthat werden.

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[206/0222] suche die Fälle sein könnten, in denen der Genuss des Alkohols aus psychischen Gründen nützlich erscheint. Der erste Schluss, den wir aus unseren Erfahrungen ableiten müssen, ist die Forderung, über- all nur mit sehr kleinen Dosen vorzugehen, da sonst sofort die Läh- mungserscheinungen in den Vordergrund treten. Diese letzteren könnte man höchstens zur Erzielung von Ruhe und Schlaf hervorrufen, wie es auch praktisch nicht ohne Erfolg geschieht. Zur Vermeidung motorischer Reizwirkungen wäre hier eine einmalige grössere Gabe (45—60 gr) angezeigt. Allerdings wissen wir noch nicht, wie weit die so erzeugte Narkose wirklich den normalen Schlaf zu ersetzen vermag. Eine Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit wird man durch den Alkohol nicht erreichen; selbst die Erleichterung des mechanischen Auswendiglernens bei kleinen Dosen ist so vorübergehender Natur, dass sie kaum verwerthbar erscheint, zumal noch nicht feststeht, ob das rascher Erlernte auch mit genügender Sicherheit haftet. Dagegen lässt sich nicht in Abrede stellen, dass die Anwendung des Alkohols dort rationell wäre, wo es sich um eine einmalige stärkere mo- torische Leistung handelt, namentlich dann, wenn es weniger auf einen grossen Kraftaufwand, als vielmehr auf die Ueberwindung natür- licher oder unter Umständen krankhafter Hemmungen, auf rasche Entschlossenheit ankommt. Diese Schlussfolgerung aus unsern Ver- suchen deckt sich bekanntlich mit den Erfahrungen des täglichen Lebens vollständig. Die Befangenheit des ungeübten Redners weicht unter dem Einflusse des Alkohols, die Worte strömen ihm leichter zu. In therapeutischer Beziehung will ich hier nur an die günstige Wir- kung erinnern, welche kleinen Alkoholdosen in gewissen neurasthe- nischen Zuständen, bei der Ueberwindung von Zwangsbefürchtungen zukommt. Namentlich bei der Platzangst gelingt es durch Zuhülfe- nahme jenes Mittels leichter, das Auftreten der quälenden Anfälle zu verhindern, dadurch dem Kranken das verlorene Selbstvertrauen zurückzuerobern und so den Boden für eine systematische Behandlung des Leidens vorzubereiten. Eine weitere psychische Indication des Alkohols lässt sich aus seiner unzweifelhaften euphorischen Wirkung ableiten. Die vorübergehende Beseitigung innerer Spannungen, wie die Abstumpfung der Empfindlichkeit gegen deprimirende Einflüsse sind ebenso unzweifel- hafte Erfahrungsthatsachen, wie leicht begreifliche Folgerungen aus den Ergebnissen des Experimentes. Diese Wirkung kann aber thatsäch- lich in vielen Lebenslagen eine ausserordentliche Wohlthat werden.

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Zitationshilfe: Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/222>, abgerufen am 28.03.2024.