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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892.

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giebt es Zustände, bei denen zwar die motorische Erregung sich im
Bewegungsdrang, in gehobener Stimmung, dem Gefühle grösserer
Leistungsfähigkeit und leichter Ideenflucht kundgiebt, in denen aber
die Besonnenheit vollständig erhalten, die Auffassungsfähigkeit jeden-
falls nicht herabgesetzt und das Urtheil nicht getrübt ist. Hierher
gehören bekanntlich zahlreiche Fälle von periodischem und circulärem
Irresein.

Durch alle diese Erfahrungen wird es wahrscheinlich, dass die
Lähmung des Urtheils an sich die affectiven und motorischen Störungen,
wie wir sie im Alkoholrausche beobachten, nicht erklären kann. Wir
finden zwar bei der einfachen Manie beide Seiten der psychischen
Alkoholwirkung thatsächlich ebenfalls mit einander vereint, aber wir
sehen andererseits, dass die Euphorie und der Bewegungsdrang auch
ohne nachweisbare Urtheilsstörung beobachtet wird, und dass die ein-
fache Unfähigkeit zur Auffassung und Verarbeitung äusserer Eindrücke
durchaus nicht nothwendig zu jenen Folgeerscheinungen führt, die
Bunge aus ihr ableitet. In letzterer Beziehung könnte ich zudem noch
auf die vielen andern narkotischen Mittel hinweisen, welche bei gleicher
Urtheilslähmung doch ein ganz anderes psychisches Krankheitsbild er-
zeugen, als der Alkohol, an die leichteren und schwereren Grade von
Urtheilsschwäche, wie sie acuten und chronischen Schwächezuständen
eigenthümlich sind, u. A. m.

Wie mir scheint, ist somit der Schluss unabweisbar, dass zu der
ja ohne Zweifel vorhandenen Auffassungs- und Urtheilsstörung noch
ein weiteres Element hinzukommen muss, um uns die Wirkung des
Alkohols auf unser Seelenleben verständlich zu machen. Als solches
kann nach den vorstehenden Erörterungen wol nur eine Steigerung der
centralen motorischen Erregbarkeit
in Betracht kommen,
die in der That eine befriedigende Erklärung aller Störungen liefern
würde, für welche die Bunge'sche Auffassung nicht ausreicht. Zwin-
gend wird die Annahme gerade dieser zweiten Componente der Alko-
holwirkung bei Berücksichtigung der experimentellen Thatsachen. Die
Beschleunigung der einfachen und Wahlreactionen, der Lesegeschwin-
digkeit, des Wiederholens, die, wenn auch geringfügige, Steigerung der
Dynamometerwerthe weisen mit Bestimmtheit auf eine Erleichterung
der motorischen Innervation hin und lassen sich schlechterdings nicht
aus einer Schwächung des Urtheils psychologisch erklären. Nebenbei
sei noch darauf aufmerksam gemacht, dass in jenem ersten Stadium
der Alkoholwirkung, in welchem die erhöhte motorische Erregbarkeit
das Bild beherrscht, Gemüthsbewegungen, da sie in gleichem Sinne

giebt es Zustände, bei denen zwar die motorische Erregung sich im
Bewegungsdrang, in gehobener Stimmung, dem Gefühle grösserer
Leistungsfähigkeit und leichter Ideenflucht kundgiebt, in denen aber
die Besonnenheit vollständig erhalten, die Auffassungsfähigkeit jeden-
falls nicht herabgesetzt und das Urtheil nicht getrübt ist. Hierher
gehören bekanntlich zahlreiche Fälle von periodischem und circulärem
Irresein.

Durch alle diese Erfahrungen wird es wahrscheinlich, dass die
Lähmung des Urtheils an sich die affectiven und motorischen Störungen,
wie wir sie im Alkoholrausche beobachten, nicht erklären kann. Wir
finden zwar bei der einfachen Manie beide Seiten der psychischen
Alkoholwirkung thatsächlich ebenfalls mit einander vereint, aber wir
sehen andererseits, dass die Euphorie und der Bewegungsdrang auch
ohne nachweisbare Urtheilsstörung beobachtet wird, und dass die ein-
fache Unfähigkeit zur Auffassung und Verarbeitung äusserer Eindrücke
durchaus nicht nothwendig zu jenen Folgeerscheinungen führt, die
Bunge aus ihr ableitet. In letzterer Beziehung könnte ich zudem noch
auf die vielen andern narkotischen Mittel hinweisen, welche bei gleicher
Urtheilslähmung doch ein ganz anderes psychisches Krankheitsbild er-
zeugen, als der Alkohol, an die leichteren und schwereren Grade von
Urtheilsschwäche, wie sie acuten und chronischen Schwächezuständen
eigenthümlich sind, u. A. m.

Wie mir scheint, ist somit der Schluss unabweisbar, dass zu der
ja ohne Zweifel vorhandenen Auffassungs- und Urtheilsstörung noch
ein weiteres Element hinzukommen muss, um uns die Wirkung des
Alkohols auf unser Seelenleben verständlich zu machen. Als solches
kann nach den vorstehenden Erörterungen wol nur eine Steigerung der
centralen motorischen Erregbarkeit
in Betracht kommen,
die in der That eine befriedigende Erklärung aller Störungen liefern
würde, für welche die Bunge’sche Auffassung nicht ausreicht. Zwin-
gend wird die Annahme gerade dieser zweiten Componente der Alko-
holwirkung bei Berücksichtigung der experimentellen Thatsachen. Die
Beschleunigung der einfachen und Wahlreactionen, der Lesegeschwin-
digkeit, des Wiederholens, die, wenn auch geringfügige, Steigerung der
Dynamometerwerthe weisen mit Bestimmtheit auf eine Erleichterung
der motorischen Innervation hin und lassen sich schlechterdings nicht
aus einer Schwächung des Urtheils psychologisch erklären. Nebenbei
sei noch darauf aufmerksam gemacht, dass in jenem ersten Stadium
der Alkoholwirkung, in welchem die erhöhte motorische Erregbarkeit
das Bild beherrscht, Gemüthsbewegungen, da sie in gleichem Sinne

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[200/0216] giebt es Zustände, bei denen zwar die motorische Erregung sich im Bewegungsdrang, in gehobener Stimmung, dem Gefühle grösserer Leistungsfähigkeit und leichter Ideenflucht kundgiebt, in denen aber die Besonnenheit vollständig erhalten, die Auffassungsfähigkeit jeden- falls nicht herabgesetzt und das Urtheil nicht getrübt ist. Hierher gehören bekanntlich zahlreiche Fälle von periodischem und circulärem Irresein. Durch alle diese Erfahrungen wird es wahrscheinlich, dass die Lähmung des Urtheils an sich die affectiven und motorischen Störungen, wie wir sie im Alkoholrausche beobachten, nicht erklären kann. Wir finden zwar bei der einfachen Manie beide Seiten der psychischen Alkoholwirkung thatsächlich ebenfalls mit einander vereint, aber wir sehen andererseits, dass die Euphorie und der Bewegungsdrang auch ohne nachweisbare Urtheilsstörung beobachtet wird, und dass die ein- fache Unfähigkeit zur Auffassung und Verarbeitung äusserer Eindrücke durchaus nicht nothwendig zu jenen Folgeerscheinungen führt, die Bunge aus ihr ableitet. In letzterer Beziehung könnte ich zudem noch auf die vielen andern narkotischen Mittel hinweisen, welche bei gleicher Urtheilslähmung doch ein ganz anderes psychisches Krankheitsbild er- zeugen, als der Alkohol, an die leichteren und schwereren Grade von Urtheilsschwäche, wie sie acuten und chronischen Schwächezuständen eigenthümlich sind, u. A. m. Wie mir scheint, ist somit der Schluss unabweisbar, dass zu der ja ohne Zweifel vorhandenen Auffassungs- und Urtheilsstörung noch ein weiteres Element hinzukommen muss, um uns die Wirkung des Alkohols auf unser Seelenleben verständlich zu machen. Als solches kann nach den vorstehenden Erörterungen wol nur eine Steigerung der centralen motorischen Erregbarkeit in Betracht kommen, die in der That eine befriedigende Erklärung aller Störungen liefern würde, für welche die Bunge’sche Auffassung nicht ausreicht. Zwin- gend wird die Annahme gerade dieser zweiten Componente der Alko- holwirkung bei Berücksichtigung der experimentellen Thatsachen. Die Beschleunigung der einfachen und Wahlreactionen, der Lesegeschwin- digkeit, des Wiederholens, die, wenn auch geringfügige, Steigerung der Dynamometerwerthe weisen mit Bestimmtheit auf eine Erleichterung der motorischen Innervation hin und lassen sich schlechterdings nicht aus einer Schwächung des Urtheils psychologisch erklären. Nebenbei sei noch darauf aufmerksam gemacht, dass in jenem ersten Stadium der Alkoholwirkung, in welchem die erhöhte motorische Erregbarkeit das Bild beherrscht, Gemüthsbewegungen, da sie in gleichem Sinne

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Zitationshilfe: Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/216>, abgerufen am 25.04.2024.