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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892.

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wissen, dass die Müdigkeit rasch verfliegt, wenn eine freudige Ueber-
raschung uns plötzlich in Erregung versetzt, wenn uns erneute Hoff-
nung zu einer letzten grossen Anstrengung anspornt, oder wenn eine
drohende Gefahr von uns die Anspannung aller Kräfte fordert. Die
Ermüdung selbst ist hier nicht etwa verschwunden; unsere wirkliche
Leistungsfähigkeit braucht dabei keine erhebliche Steigerung zu er-
fahren, und die Erschlaffung ist mit dem Nachlasse der psychischen
Erregung nur eine um so grössere, aber das Gefühl der Lähmung
wird durch die lebhafte Gemüthsbewegung vorübergehend beseitigt.
Dass sich die Alkoholmüdigkeit auch in diesem Punkte ganz ähnlich
verhält, wie die physiologische, wird durch die bekannten Beispiele
plötzlicher Ernüchterung in Augenblicken grosser Gefahr, und in
kleinem Massstabe durch den Ausfall meines schon früher besprochenen
Wahlversuches vom 15. August 1882 dargethan, in welchem wegen
der bestehenden psychischen Erregung selbst 60 gr Alkohol nur eine
späte und verhältnissmässig geringfügige Ermüdung erzeugten.

Der Grund für dieses Verhalten kann wol nur in dem Umstande
gesucht werden, dass lebhafte Affecte mit einer Steigerung der
centralen motorischen Erregkarkeit
einhergehen. Gerade
die Neigung zu musculären Entladungen, seien es Ausdrucksbewegungen,
Reden oder Handlungen, ist es ja, was die Affecte gegenüber den ein-
fachen Gefühlen und Stimmungen auszeichnet. Für diese Auffassung
spricht in sehr beredter Weise die pathologische Erfahrung, dass wir
überall dort, wo uns ein Ausfall des Ermüdungsgefühls begegnet,
gleichzeitig motorische Erregungszustände antreffen. Am bekanntesten
und lehrreichsten ist in dieser Beziehung das Beispiel der Manie, da
es hier Zustände giebt, die mit dem Verhalten Angetrunkener, äusser-
lich wenigstens, sehr grosse Aehnlichkeit haben. Wir sehen diese
Kranken monatelang, ja unter Umständen Jahr und Tag, in fort-
währender, nur durch kurze Schlafpausen unterbrochener motorischer
Erregung. Das Müdigkeitsgefühl kommt kaum zur Entwicklung; so-
bald der Schlaf unterbrochen wird, ist die Unruhe sofort wieder da,
und die Kranken peroriren noch, während ihnen die Augen bereits
zufallen, ganz ähnlich wie wir es in der Alkoholvergiftung beobachten
können. Dazu gesellt sich, ebenfalls wie im Rausche, eine meistens
gehobene, episodisch aber auch gereizte oder weinerliche Stimmung,
sowie das Symptom der Ideenflucht, welches wir früher als eine viel-
leicht vorwiegend motorische Reizerscheinung kennen gelernt haben.
Die Auffassung und das Urtheil ist in den schwereren Formen der
einfachen Manie stets mehr oder weniger getrübt. Andererseits aber

wissen, dass die Müdigkeit rasch verfliegt, wenn eine freudige Ueber-
raschung uns plötzlich in Erregung versetzt, wenn uns erneute Hoff-
nung zu einer letzten grossen Anstrengung anspornt, oder wenn eine
drohende Gefahr von uns die Anspannung aller Kräfte fordert. Die
Ermüdung selbst ist hier nicht etwa verschwunden; unsere wirkliche
Leistungsfähigkeit braucht dabei keine erhebliche Steigerung zu er-
fahren, und die Erschlaffung ist mit dem Nachlasse der psychischen
Erregung nur eine um so grössere, aber das Gefühl der Lähmung
wird durch die lebhafte Gemüthsbewegung vorübergehend beseitigt.
Dass sich die Alkoholmüdigkeit auch in diesem Punkte ganz ähnlich
verhält, wie die physiologische, wird durch die bekannten Beispiele
plötzlicher Ernüchterung in Augenblicken grosser Gefahr, und in
kleinem Massstabe durch den Ausfall meines schon früher besprochenen
Wahlversuches vom 15. August 1882 dargethan, in welchem wegen
der bestehenden psychischen Erregung selbst 60 gr Alkohol nur eine
späte und verhältnissmässig geringfügige Ermüdung erzeugten.

Der Grund für dieses Verhalten kann wol nur in dem Umstande
gesucht werden, dass lebhafte Affecte mit einer Steigerung der
centralen motorischen Erregkarkeit
einhergehen. Gerade
die Neigung zu musculären Entladungen, seien es Ausdrucksbewegungen,
Reden oder Handlungen, ist es ja, was die Affecte gegenüber den ein-
fachen Gefühlen und Stimmungen auszeichnet. Für diese Auffassung
spricht in sehr beredter Weise die pathologische Erfahrung, dass wir
überall dort, wo uns ein Ausfall des Ermüdungsgefühls begegnet,
gleichzeitig motorische Erregungszustände antreffen. Am bekanntesten
und lehrreichsten ist in dieser Beziehung das Beispiel der Manie, da
es hier Zustände giebt, die mit dem Verhalten Angetrunkener, äusser-
lich wenigstens, sehr grosse Aehnlichkeit haben. Wir sehen diese
Kranken monatelang, ja unter Umständen Jahr und Tag, in fort-
währender, nur durch kurze Schlafpausen unterbrochener motorischer
Erregung. Das Müdigkeitsgefühl kommt kaum zur Entwicklung; so-
bald der Schlaf unterbrochen wird, ist die Unruhe sofort wieder da,
und die Kranken peroriren noch, während ihnen die Augen bereits
zufallen, ganz ähnlich wie wir es in der Alkoholvergiftung beobachten
können. Dazu gesellt sich, ebenfalls wie im Rausche, eine meistens
gehobene, episodisch aber auch gereizte oder weinerliche Stimmung,
sowie das Symptom der Ideenflucht, welches wir früher als eine viel-
leicht vorwiegend motorische Reizerscheinung kennen gelernt haben.
Die Auffassung und das Urtheil ist in den schwereren Formen der
einfachen Manie stets mehr oder weniger getrübt. Andererseits aber

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[199/0215] wissen, dass die Müdigkeit rasch verfliegt, wenn eine freudige Ueber- raschung uns plötzlich in Erregung versetzt, wenn uns erneute Hoff- nung zu einer letzten grossen Anstrengung anspornt, oder wenn eine drohende Gefahr von uns die Anspannung aller Kräfte fordert. Die Ermüdung selbst ist hier nicht etwa verschwunden; unsere wirkliche Leistungsfähigkeit braucht dabei keine erhebliche Steigerung zu er- fahren, und die Erschlaffung ist mit dem Nachlasse der psychischen Erregung nur eine um so grössere, aber das Gefühl der Lähmung wird durch die lebhafte Gemüthsbewegung vorübergehend beseitigt. Dass sich die Alkoholmüdigkeit auch in diesem Punkte ganz ähnlich verhält, wie die physiologische, wird durch die bekannten Beispiele plötzlicher Ernüchterung in Augenblicken grosser Gefahr, und in kleinem Massstabe durch den Ausfall meines schon früher besprochenen Wahlversuches vom 15. August 1882 dargethan, in welchem wegen der bestehenden psychischen Erregung selbst 60 gr Alkohol nur eine späte und verhältnissmässig geringfügige Ermüdung erzeugten. Der Grund für dieses Verhalten kann wol nur in dem Umstande gesucht werden, dass lebhafte Affecte mit einer Steigerung der centralen motorischen Erregkarkeit einhergehen. Gerade die Neigung zu musculären Entladungen, seien es Ausdrucksbewegungen, Reden oder Handlungen, ist es ja, was die Affecte gegenüber den ein- fachen Gefühlen und Stimmungen auszeichnet. Für diese Auffassung spricht in sehr beredter Weise die pathologische Erfahrung, dass wir überall dort, wo uns ein Ausfall des Ermüdungsgefühls begegnet, gleichzeitig motorische Erregungszustände antreffen. Am bekanntesten und lehrreichsten ist in dieser Beziehung das Beispiel der Manie, da es hier Zustände giebt, die mit dem Verhalten Angetrunkener, äusser- lich wenigstens, sehr grosse Aehnlichkeit haben. Wir sehen diese Kranken monatelang, ja unter Umständen Jahr und Tag, in fort- währender, nur durch kurze Schlafpausen unterbrochener motorischer Erregung. Das Müdigkeitsgefühl kommt kaum zur Entwicklung; so- bald der Schlaf unterbrochen wird, ist die Unruhe sofort wieder da, und die Kranken peroriren noch, während ihnen die Augen bereits zufallen, ganz ähnlich wie wir es in der Alkoholvergiftung beobachten können. Dazu gesellt sich, ebenfalls wie im Rausche, eine meistens gehobene, episodisch aber auch gereizte oder weinerliche Stimmung, sowie das Symptom der Ideenflucht, welches wir früher als eine viel- leicht vorwiegend motorische Reizerscheinung kennen gelernt haben. Die Auffassung und das Urtheil ist in den schwereren Formen der einfachen Manie stets mehr oder weniger getrübt. Andererseits aber

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Zitationshilfe: Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/215>, abgerufen am 28.03.2024.