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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892.

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festgestellten Ablaufe der psychischen Vorgänge entsprechen. In der
ersten Phase der Alkoholvergiftung überwiegt die Erleichterung der
motorischen Functionen. Gleichzeitig sehen wir eine gehobene Stim-
mung sich entwickeln, die uns den Druck vom Herzen nimmt, die
innere Spannung beseitigt. Kummer und Sorgen werden vergessen;
die Welt und die Menschheit erscheint im rosigsten Lichte; wir werden
heiter, ausgelassen, zu Scherzen geneigt, versöhnlich, nachgiebig und
überschwänglich, schliessen Freundschaften und Verbrüderungen. Auch
sexuelle Regungen, Neigung zu Obscönitäten treten um so stärker
hervor, je mehr sich die gewöhnlichen Hemmungen abschwächen. In
einem späteren Stadium des Rausches geht dieses Wohlbehagen nicht
selten in zornige Reizbarkeit und Streitsucht über, die Zeichen einer
stärkeren Ausbildung der motorischen Erregbarkeit, bis dann der
Eintritt stumpfer Apathie die Scene endet, nicht selten eingeleitet
durch Rührseligkeit und Weinerlichkeit, in der sich vielleicht gerade
der Uebergang des gesteigerten Kraftgefühls in dasjenige der Hem-
mung und Lähmung ankündigt.

Wie man sieht, ist die allgemeine Uebereinstimmung des prak-
tisch bekannten Bildes der acuten Alkoholvergiftung mit demjenigen,
welches sich aus den Versuchsergebnissen ableiten lässt, eine sehr voll-
ständige, wenn auch betont werden muss, dass auf beiden Seiten aus-
geprägte individuelle Verschiedenheiten bestehen, die wir einstweilen
hier ausser Acht lassen müssen. Man könnte daher zu dem Schlusse
kommen, dass eigentlich das Experiment uns nichts gelehrt hat, was
uns nicht schon ohnedies bekannt war, und somit die aufgewandte
Mühe schlecht gelohnt worden ist. Indessen dieser Schluss hätte doch
nur eine sehr zweifelhafte Berechtigung. Abgesehen davon, dass es
überall als ein Triumph der experimentellen Methode gilt, wenn die
von ihr gewonnenen, in Zahlen ausgedrückten Resultate den ver-
schwommenen Zügen der täglichen Erfahrung einen schärferen und
verständlicheren Ausdruck zu geben vermögen, zeigt auch ein Blick
in die Lehrbücher der Arzneimittellehre, dass die subjective Auf-
fassung offenbar nicht im Stande ist, die psychischen Wirkungen des
Alkohols mit voller Klarheit zu analysiren. Nachdem wir die elemen-
taren Veränderungen des Seelenlebens unter dem Einflusse des
Alkohols kennen, erscheinen uns die erfahrungsmässigen Symptome
einfach als die selbstverständlichen Folgen jener fundamentalen Um-
wälzung. Jeder Versuch aber, aus der einfachen Beobachtung und
Selbstbeobachtung das Wesentliche der Wirkung herauszuerkennen,
wird mit grosser Wahrscheinlichkeit immer darin Schwierigkeiten

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festgestellten Ablaufe der psychischen Vorgänge entsprechen. In der
ersten Phase der Alkoholvergiftung überwiegt die Erleichterung der
motorischen Functionen. Gleichzeitig sehen wir eine gehobene Stim-
mung sich entwickeln, die uns den Druck vom Herzen nimmt, die
innere Spannung beseitigt. Kummer und Sorgen werden vergessen;
die Welt und die Menschheit erscheint im rosigsten Lichte; wir werden
heiter, ausgelassen, zu Scherzen geneigt, versöhnlich, nachgiebig und
überschwänglich, schliessen Freundschaften und Verbrüderungen. Auch
sexuelle Regungen, Neigung zu Obscönitäten treten um so stärker
hervor, je mehr sich die gewöhnlichen Hemmungen abschwächen. In
einem späteren Stadium des Rausches geht dieses Wohlbehagen nicht
selten in zornige Reizbarkeit und Streitsucht über, die Zeichen einer
stärkeren Ausbildung der motorischen Erregbarkeit, bis dann der
Eintritt stumpfer Apathie die Scene endet, nicht selten eingeleitet
durch Rührseligkeit und Weinerlichkeit, in der sich vielleicht gerade
der Uebergang des gesteigerten Kraftgefühls in dasjenige der Hem-
mung und Lähmung ankündigt.

Wie man sieht, ist die allgemeine Uebereinstimmung des prak-
tisch bekannten Bildes der acuten Alkoholvergiftung mit demjenigen,
welches sich aus den Versuchsergebnissen ableiten lässt, eine sehr voll-
ständige, wenn auch betont werden muss, dass auf beiden Seiten aus-
geprägte individuelle Verschiedenheiten bestehen, die wir einstweilen
hier ausser Acht lassen müssen. Man könnte daher zu dem Schlusse
kommen, dass eigentlich das Experiment uns nichts gelehrt hat, was
uns nicht schon ohnedies bekannt war, und somit die aufgewandte
Mühe schlecht gelohnt worden ist. Indessen dieser Schluss hätte doch
nur eine sehr zweifelhafte Berechtigung. Abgesehen davon, dass es
überall als ein Triumph der experimentellen Methode gilt, wenn die
von ihr gewonnenen, in Zahlen ausgedrückten Resultate den ver-
schwommenen Zügen der täglichen Erfahrung einen schärferen und
verständlicheren Ausdruck zu geben vermögen, zeigt auch ein Blick
in die Lehrbücher der Arzneimittellehre, dass die subjective Auf-
fassung offenbar nicht im Stande ist, die psychischen Wirkungen des
Alkohols mit voller Klarheit zu analysiren. Nachdem wir die elemen-
taren Veränderungen des Seelenlebens unter dem Einflusse des
Alkohols kennen, erscheinen uns die erfahrungsmässigen Symptome
einfach als die selbstverständlichen Folgen jener fundamentalen Um-
wälzung. Jeder Versuch aber, aus der einfachen Beobachtung und
Selbstbeobachtung das Wesentliche der Wirkung herauszuerkennen,
wird mit grosser Wahrscheinlichkeit immer darin Schwierigkeiten

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[195/0211] festgestellten Ablaufe der psychischen Vorgänge entsprechen. In der ersten Phase der Alkoholvergiftung überwiegt die Erleichterung der motorischen Functionen. Gleichzeitig sehen wir eine gehobene Stim- mung sich entwickeln, die uns den Druck vom Herzen nimmt, die innere Spannung beseitigt. Kummer und Sorgen werden vergessen; die Welt und die Menschheit erscheint im rosigsten Lichte; wir werden heiter, ausgelassen, zu Scherzen geneigt, versöhnlich, nachgiebig und überschwänglich, schliessen Freundschaften und Verbrüderungen. Auch sexuelle Regungen, Neigung zu Obscönitäten treten um so stärker hervor, je mehr sich die gewöhnlichen Hemmungen abschwächen. In einem späteren Stadium des Rausches geht dieses Wohlbehagen nicht selten in zornige Reizbarkeit und Streitsucht über, die Zeichen einer stärkeren Ausbildung der motorischen Erregbarkeit, bis dann der Eintritt stumpfer Apathie die Scene endet, nicht selten eingeleitet durch Rührseligkeit und Weinerlichkeit, in der sich vielleicht gerade der Uebergang des gesteigerten Kraftgefühls in dasjenige der Hem- mung und Lähmung ankündigt. Wie man sieht, ist die allgemeine Uebereinstimmung des prak- tisch bekannten Bildes der acuten Alkoholvergiftung mit demjenigen, welches sich aus den Versuchsergebnissen ableiten lässt, eine sehr voll- ständige, wenn auch betont werden muss, dass auf beiden Seiten aus- geprägte individuelle Verschiedenheiten bestehen, die wir einstweilen hier ausser Acht lassen müssen. Man könnte daher zu dem Schlusse kommen, dass eigentlich das Experiment uns nichts gelehrt hat, was uns nicht schon ohnedies bekannt war, und somit die aufgewandte Mühe schlecht gelohnt worden ist. Indessen dieser Schluss hätte doch nur eine sehr zweifelhafte Berechtigung. Abgesehen davon, dass es überall als ein Triumph der experimentellen Methode gilt, wenn die von ihr gewonnenen, in Zahlen ausgedrückten Resultate den ver- schwommenen Zügen der täglichen Erfahrung einen schärferen und verständlicheren Ausdruck zu geben vermögen, zeigt auch ein Blick in die Lehrbücher der Arzneimittellehre, dass die subjective Auf- fassung offenbar nicht im Stande ist, die psychischen Wirkungen des Alkohols mit voller Klarheit zu analysiren. Nachdem wir die elemen- taren Veränderungen des Seelenlebens unter dem Einflusse des Alkohols kennen, erscheinen uns die erfahrungsmässigen Symptome einfach als die selbstverständlichen Folgen jener fundamentalen Um- wälzung. Jeder Versuch aber, aus der einfachen Beobachtung und Selbstbeobachtung das Wesentliche der Wirkung herauszuerkennen, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit immer darin Schwierigkeiten 13*

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Zitationshilfe: Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/211>, abgerufen am 20.04.2024.