Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

ohne Unterbrechung den letzteren vorbereitet und somit keinerlei andere
Pausen in dem flüsternden Lesen entstehen, als diejenigen, welche durch
das Athmungsbedürfniss bedingt werden. Nach Cattell's Unter-
suchungen betrug die reine Unterscheidungszeit für 3--6 silbige eng-
lische Wörter bei zwei Beobachtern 154 resp. 158 s. Nehmen wir,
wie es der Wirklichkeit entspricht, an, dass jene Wörter im Durch-
schnitte 4,5 Silben besassen, so hätte die Unterscheidungszeit für jede
Silbe etwa 34 resp. 35 s betragen. Das Aussprechen einer Silbe da-
gegen nahm, nach Ausweis der beiden ersten Normalmittel aller Lese-
versuche, bei K. etwa 144, bei De. 125 s in Anspruch, also 3--4 Mal
so lange Zeit, als die Unterscheidung. Unter diesen Umständen konnte
die Auffassung des Lesestoffes ohne Schwierigkeit dem viel langsameren
Aussprechen der Worte voraneilen, so dass die gemessenen Zahlen-
werthe nur die Geschwindigkeit der Sprachbewegung wiedergeben
und von dem Ablaufe des Wahrnehmungsvorganges nahezu oder völlig
unabhängig sind.

Dem Gegensatze in der Alkoholwirkung entspricht somit auch ein
Gegensatz in der Function, deren Dauer wir im Versuche bestimmen.
Beim Rechnen und Associiren war es die Auffassung und intellec-
tuelle Verarbeitung des Eindruckes, welche den wesentlichsten Theil
der gemessenen Zeiten in Anspruch nahm; hier ist es vielmehr die
Innervation der Sprachmuskeln und der Ablauf ihrer Bewegung. Daraus
ergiebt sich der unausweichliche Schluss, dass der Alkohol verschiedene
psychische Functionen in verschiedener Weise beeinflusst, dass er die
sensorischen und intellectuellen Vorgänge von vornherein er-
schwert, die motorischen zunächst wenigstens erleichtert. Bevor wir
indessen diese Folgerung in so allgemeiner Form anerkennen, wird es
nothwendig sein, sich an der Hand der übrigen Versuchsergebnisse zu ver-
gewissern, ob sich der formulirte Gegensatz in der Alkoholwirkung
auch sonst in der gleichen Weise wieder auffinden lässt. Ich kann
dabei zunächst auf den Umstand hinweisen, dass ich schon in meiner
früheren Arbeit, allerdings noch ohne meinen Annahmen volle
Sicherheit geben zu können, zu einem ganz ähnlichen Schlusse ge-
kommen war. Schon damals schien mir der Wahlact mehr dem be-
schleunigenden, der Unterscheidungsact mehr dem verlangsamenden
Einflusse des Alkohols zugänglich zu sein. Auch in der jetzigen
Darstellung spiegeln die Versuche über Unterscheidungs- und Wahl-
reactionen dieses Verhalten wider, insofern bei den letzteren die an-
fängliche Verkürzung mehrfach nachweisbar ist, bei jenen ersteren da-
gegen nicht. Dabei ist überdies zu berücksichtigen, dass auch die

ohne Unterbrechung den letzteren vorbereitet und somit keinerlei andere
Pausen in dem flüsternden Lesen entstehen, als diejenigen, welche durch
das Athmungsbedürfniss bedingt werden. Nach Cattell’s Unter-
suchungen betrug die reine Unterscheidungszeit für 3—6 silbige eng-
lische Wörter bei zwei Beobachtern 154 resp. 158 σ. Nehmen wir,
wie es der Wirklichkeit entspricht, an, dass jene Wörter im Durch-
schnitte 4,5 Silben besassen, so hätte die Unterscheidungszeit für jede
Silbe etwa 34 resp. 35 σ betragen. Das Aussprechen einer Silbe da-
gegen nahm, nach Ausweis der beiden ersten Normalmittel aller Lese-
versuche, bei K. etwa 144, bei De. 125 σ in Anspruch, also 3—4 Mal
so lange Zeit, als die Unterscheidung. Unter diesen Umständen konnte
die Auffassung des Lesestoffes ohne Schwierigkeit dem viel langsameren
Aussprechen der Worte voraneilen, so dass die gemessenen Zahlen-
werthe nur die Geschwindigkeit der Sprachbewegung wiedergeben
und von dem Ablaufe des Wahrnehmungsvorganges nahezu oder völlig
unabhängig sind.

Dem Gegensatze in der Alkoholwirkung entspricht somit auch ein
Gegensatz in der Function, deren Dauer wir im Versuche bestimmen.
Beim Rechnen und Associiren war es die Auffassung und intellec-
tuelle Verarbeitung des Eindruckes, welche den wesentlichsten Theil
der gemessenen Zeiten in Anspruch nahm; hier ist es vielmehr die
Innervation der Sprachmuskeln und der Ablauf ihrer Bewegung. Daraus
ergiebt sich der unausweichliche Schluss, dass der Alkohol verschiedene
psychische Functionen in verschiedener Weise beeinflusst, dass er die
sensorischen und intellectuellen Vorgänge von vornherein er-
schwert, die motorischen zunächst wenigstens erleichtert. Bevor wir
indessen diese Folgerung in so allgemeiner Form anerkennen, wird es
nothwendig sein, sich an der Hand der übrigen Versuchsergebnisse zu ver-
gewissern, ob sich der formulirte Gegensatz in der Alkoholwirkung
auch sonst in der gleichen Weise wieder auffinden lässt. Ich kann
dabei zunächst auf den Umstand hinweisen, dass ich schon in meiner
früheren Arbeit, allerdings noch ohne meinen Annahmen volle
Sicherheit geben zu können, zu einem ganz ähnlichen Schlusse ge-
kommen war. Schon damals schien mir der Wahlact mehr dem be-
schleunigenden, der Unterscheidungsact mehr dem verlangsamenden
Einflusse des Alkohols zugänglich zu sein. Auch in der jetzigen
Darstellung spiegeln die Versuche über Unterscheidungs- und Wahl-
reactionen dieses Verhalten wider, insofern bei den letzteren die an-
fängliche Verkürzung mehrfach nachweisbar ist, bei jenen ersteren da-
gegen nicht. Dabei ist überdies zu berücksichtigen, dass auch die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0197" n="181"/>
ohne Unterbrechung den letzteren vorbereitet und somit keinerlei andere<lb/>
Pausen in dem flüsternden Lesen entstehen, als diejenigen, welche durch<lb/>
das Athmungsbedürfniss bedingt werden. Nach <hi rendition="#g">Cattell</hi>&#x2019;s Unter-<lb/>
suchungen betrug die reine Unterscheidungszeit für 3&#x2014;6 silbige eng-<lb/>
lische Wörter bei zwei Beobachtern 154 resp. 158 &#x03C3;. Nehmen wir,<lb/>
wie es der Wirklichkeit entspricht, an, dass jene Wörter im Durch-<lb/>
schnitte 4,5 Silben besassen, so hätte die Unterscheidungszeit für jede<lb/>
Silbe etwa 34 resp. 35 &#x03C3; betragen. Das Aussprechen einer Silbe da-<lb/>
gegen nahm, nach Ausweis der beiden ersten Normalmittel aller Lese-<lb/>
versuche, bei K. etwa 144, bei De. 125 &#x03C3; in Anspruch, also 3&#x2014;4 Mal<lb/>
so lange Zeit, als die Unterscheidung. Unter diesen Umständen konnte<lb/>
die Auffassung des Lesestoffes ohne Schwierigkeit dem viel langsameren<lb/>
Aussprechen der Worte voraneilen, so dass die gemessenen Zahlen-<lb/>
werthe nur die Geschwindigkeit der <hi rendition="#g">Sprachbewegung</hi> wiedergeben<lb/>
und von dem Ablaufe des Wahrnehmungsvorganges nahezu oder völlig<lb/>
unabhängig sind.</p><lb/>
          <p>Dem Gegensatze in der Alkoholwirkung entspricht somit auch ein<lb/>
Gegensatz in der <hi rendition="#g">Function</hi>, deren Dauer wir im Versuche bestimmen.<lb/>
Beim Rechnen und Associiren war es die Auffassung und intellec-<lb/>
tuelle Verarbeitung des Eindruckes, welche den wesentlichsten Theil<lb/>
der gemessenen Zeiten in Anspruch nahm; hier ist es vielmehr die<lb/>
Innervation der Sprachmuskeln und der Ablauf ihrer Bewegung. Daraus<lb/>
ergiebt sich der unausweichliche Schluss, dass der Alkohol verschiedene<lb/>
psychische Functionen in verschiedener Weise beeinflusst, dass er die<lb/><hi rendition="#g">sensorischen</hi> und <hi rendition="#g">intellectuellen</hi> Vorgänge von vornherein er-<lb/>
schwert, die <hi rendition="#g">motorischen</hi> zunächst wenigstens erleichtert. Bevor wir<lb/>
indessen diese Folgerung in so allgemeiner Form anerkennen, wird es<lb/>
nothwendig sein, sich an der Hand der übrigen Versuchsergebnisse zu ver-<lb/>
gewissern, ob sich der formulirte Gegensatz in der Alkoholwirkung<lb/>
auch sonst in der gleichen Weise wieder auffinden lässt. Ich kann<lb/>
dabei zunächst auf den Umstand hinweisen, dass ich schon in meiner<lb/>
früheren Arbeit, allerdings noch ohne meinen Annahmen volle<lb/>
Sicherheit geben zu können, zu einem ganz ähnlichen Schlusse ge-<lb/>
kommen war. Schon damals schien mir der Wahlact mehr dem be-<lb/>
schleunigenden, der Unterscheidungsact mehr dem verlangsamenden<lb/>
Einflusse des Alkohols zugänglich zu sein. Auch in der jetzigen<lb/>
Darstellung spiegeln die Versuche über Unterscheidungs- und Wahl-<lb/>
reactionen dieses Verhalten wider, insofern bei den letzteren die an-<lb/>
fängliche Verkürzung mehrfach nachweisbar ist, bei jenen ersteren da-<lb/>
gegen nicht. Dabei ist überdies zu berücksichtigen, dass auch die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[181/0197] ohne Unterbrechung den letzteren vorbereitet und somit keinerlei andere Pausen in dem flüsternden Lesen entstehen, als diejenigen, welche durch das Athmungsbedürfniss bedingt werden. Nach Cattell’s Unter- suchungen betrug die reine Unterscheidungszeit für 3—6 silbige eng- lische Wörter bei zwei Beobachtern 154 resp. 158 σ. Nehmen wir, wie es der Wirklichkeit entspricht, an, dass jene Wörter im Durch- schnitte 4,5 Silben besassen, so hätte die Unterscheidungszeit für jede Silbe etwa 34 resp. 35 σ betragen. Das Aussprechen einer Silbe da- gegen nahm, nach Ausweis der beiden ersten Normalmittel aller Lese- versuche, bei K. etwa 144, bei De. 125 σ in Anspruch, also 3—4 Mal so lange Zeit, als die Unterscheidung. Unter diesen Umständen konnte die Auffassung des Lesestoffes ohne Schwierigkeit dem viel langsameren Aussprechen der Worte voraneilen, so dass die gemessenen Zahlen- werthe nur die Geschwindigkeit der Sprachbewegung wiedergeben und von dem Ablaufe des Wahrnehmungsvorganges nahezu oder völlig unabhängig sind. Dem Gegensatze in der Alkoholwirkung entspricht somit auch ein Gegensatz in der Function, deren Dauer wir im Versuche bestimmen. Beim Rechnen und Associiren war es die Auffassung und intellec- tuelle Verarbeitung des Eindruckes, welche den wesentlichsten Theil der gemessenen Zeiten in Anspruch nahm; hier ist es vielmehr die Innervation der Sprachmuskeln und der Ablauf ihrer Bewegung. Daraus ergiebt sich der unausweichliche Schluss, dass der Alkohol verschiedene psychische Functionen in verschiedener Weise beeinflusst, dass er die sensorischen und intellectuellen Vorgänge von vornherein er- schwert, die motorischen zunächst wenigstens erleichtert. Bevor wir indessen diese Folgerung in so allgemeiner Form anerkennen, wird es nothwendig sein, sich an der Hand der übrigen Versuchsergebnisse zu ver- gewissern, ob sich der formulirte Gegensatz in der Alkoholwirkung auch sonst in der gleichen Weise wieder auffinden lässt. Ich kann dabei zunächst auf den Umstand hinweisen, dass ich schon in meiner früheren Arbeit, allerdings noch ohne meinen Annahmen volle Sicherheit geben zu können, zu einem ganz ähnlichen Schlusse ge- kommen war. Schon damals schien mir der Wahlact mehr dem be- schleunigenden, der Unterscheidungsact mehr dem verlangsamenden Einflusse des Alkohols zugänglich zu sein. Auch in der jetzigen Darstellung spiegeln die Versuche über Unterscheidungs- und Wahl- reactionen dieses Verhalten wider, insofern bei den letzteren die an- fängliche Verkürzung mehrfach nachweisbar ist, bei jenen ersteren da- gegen nicht. Dabei ist überdies zu berücksichtigen, dass auch die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/197
Zitationshilfe: Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/197>, abgerufen am 25.04.2024.