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Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Sie war witzig und bei ziemlicher Kälte des Herzens mit großer Geistesgegenwart begabt. Der Graf konnte sein Behagen an der kecken, philinenhaften Art der Italienerin gar nicht verbergen, und Ida sah, wie sich vor ihren Augen die Nacht immer düsterer zusammenzog, bis endlich die Stunde des Aufbruchs sie befreite.

Am andern Morgen war sie nicht mehr zu halten; endlich ließ man sie zur Stadt fahren, da alles Zureden umsonst gewesen. Die Sängerin, die sich nicht gern selbst begleitete, weil sie gewohnt war, beim Singen zu gesticuliren, stimmte aufrichtig in die Bitten der Familie mit ein, daß Ida recht bald, recht oft wiederkommen möge. Sie versprach es und wollte sich zur Erfüllung der Zusage zwingen, weil sie sich den wahren Grund ihres Widerwillens nicht gestehen mochte.

Innerlich unklar und fast gedankenlos wanderte sie am folgenden Nachmittage vors Thor, zwischen Gärten und Landhäusern hin, die sich von der Vorstadt bis nahe gegen Waldheim zogen. Es dämmerte schon ein wenig, als sie die Plattform des hohen, weißen Hauses blinken sah. Zweifelhaft, ob sie umkehren solle, blieb sie stehen, wagte dann einige Schritte weiter und stand endlich am Ufer des Flüßchens, das sie just von der Stelle des Gartens schied, wo sie die Fenster des Musiksaales sehen konnte. Diese erhellten sich von vielen Lichtern, sie unterschied bei der Stille des Abends die bekannten Stimmen, und bald begann nach einem ungeschickten Vorspiel, das die Hand der

Sie war witzig und bei ziemlicher Kälte des Herzens mit großer Geistesgegenwart begabt. Der Graf konnte sein Behagen an der kecken, philinenhaften Art der Italienerin gar nicht verbergen, und Ida sah, wie sich vor ihren Augen die Nacht immer düsterer zusammenzog, bis endlich die Stunde des Aufbruchs sie befreite.

Am andern Morgen war sie nicht mehr zu halten; endlich ließ man sie zur Stadt fahren, da alles Zureden umsonst gewesen. Die Sängerin, die sich nicht gern selbst begleitete, weil sie gewohnt war, beim Singen zu gesticuliren, stimmte aufrichtig in die Bitten der Familie mit ein, daß Ida recht bald, recht oft wiederkommen möge. Sie versprach es und wollte sich zur Erfüllung der Zusage zwingen, weil sie sich den wahren Grund ihres Widerwillens nicht gestehen mochte.

Innerlich unklar und fast gedankenlos wanderte sie am folgenden Nachmittage vors Thor, zwischen Gärten und Landhäusern hin, die sich von der Vorstadt bis nahe gegen Waldheim zogen. Es dämmerte schon ein wenig, als sie die Plattform des hohen, weißen Hauses blinken sah. Zweifelhaft, ob sie umkehren solle, blieb sie stehen, wagte dann einige Schritte weiter und stand endlich am Ufer des Flüßchens, das sie just von der Stelle des Gartens schied, wo sie die Fenster des Musiksaales sehen konnte. Diese erhellten sich von vielen Lichtern, sie unterschied bei der Stille des Abends die bekannten Stimmen, und bald begann nach einem ungeschickten Vorspiel, das die Hand der

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[0041] Sie war witzig und bei ziemlicher Kälte des Herzens mit großer Geistesgegenwart begabt. Der Graf konnte sein Behagen an der kecken, philinenhaften Art der Italienerin gar nicht verbergen, und Ida sah, wie sich vor ihren Augen die Nacht immer düsterer zusammenzog, bis endlich die Stunde des Aufbruchs sie befreite. Am andern Morgen war sie nicht mehr zu halten; endlich ließ man sie zur Stadt fahren, da alles Zureden umsonst gewesen. Die Sängerin, die sich nicht gern selbst begleitete, weil sie gewohnt war, beim Singen zu gesticuliren, stimmte aufrichtig in die Bitten der Familie mit ein, daß Ida recht bald, recht oft wiederkommen möge. Sie versprach es und wollte sich zur Erfüllung der Zusage zwingen, weil sie sich den wahren Grund ihres Widerwillens nicht gestehen mochte. Innerlich unklar und fast gedankenlos wanderte sie am folgenden Nachmittage vors Thor, zwischen Gärten und Landhäusern hin, die sich von der Vorstadt bis nahe gegen Waldheim zogen. Es dämmerte schon ein wenig, als sie die Plattform des hohen, weißen Hauses blinken sah. Zweifelhaft, ob sie umkehren solle, blieb sie stehen, wagte dann einige Schritte weiter und stand endlich am Ufer des Flüßchens, das sie just von der Stelle des Gartens schied, wo sie die Fenster des Musiksaales sehen konnte. Diese erhellten sich von vielen Lichtern, sie unterschied bei der Stille des Abends die bekannten Stimmen, und bald begann nach einem ungeschickten Vorspiel, das die Hand der

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/41>, abgerufen am 28.03.2024.