Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Caricaturen wirkliche Liebe und wirklichen Schmerz aussprächen! Nur Lüge und Affectation ist in dieser Musik, und was sollen wir von den vornehmen Empfindungen der Salonmenschen Besseres halten, wenn sie sagen: das ist unsere Sprache. Und Alceste, Iphigenie sollen nicht mehr von der Gegenwart verstanden werden können? Was ist denn ewig und allen Generationen aufgeschlossen, wenn nicht die geheiligten Triebe der Eltern-, Gatten- und Geschwisterliebe, für die Gluck die wahrhafteste und einfachste Sprache gefunden hat? Der Stolz und die Hingebung Armidens, leben sie nicht neu in jedem Herzen auf, das von der Leidenschaft für die Schönheit nach verzweifelten Kämpfen überwältigt wird?

"Ach, wer vertilgt ihn wohl von des Daseins Spur" -- stimmte sie an und vertiefte sich so sehr in die Rolle Armidens, daß sie das Klopfen an der Thür überhörte und plötzlich Selvar neben ihr stand.

Es war das erste Mal, daß er sie in ihrer Wohnung besuchte. Bisher hatte er vermieden, in die Stadt zu kommen; nun wollte er beim Vertauschen seines Landgutes mit dem Winteraufenthalt ihr einige Zimmer seines Hauses anbieten, wo sie unter dem Schutze seiner Familie, wie er ihr vorstellte, schicklicher in der großen Stadt existiren könne, als so allein bei fremden Menschen.

So reizend es Ida erschien, mit ihm unter Einem Dache zu leben, so süß sie sich dort in ein innigeres

Caricaturen wirkliche Liebe und wirklichen Schmerz aussprächen! Nur Lüge und Affectation ist in dieser Musik, und was sollen wir von den vornehmen Empfindungen der Salonmenschen Besseres halten, wenn sie sagen: das ist unsere Sprache. Und Alceste, Iphigenie sollen nicht mehr von der Gegenwart verstanden werden können? Was ist denn ewig und allen Generationen aufgeschlossen, wenn nicht die geheiligten Triebe der Eltern-, Gatten- und Geschwisterliebe, für die Gluck die wahrhafteste und einfachste Sprache gefunden hat? Der Stolz und die Hingebung Armidens, leben sie nicht neu in jedem Herzen auf, das von der Leidenschaft für die Schönheit nach verzweifelten Kämpfen überwältigt wird?

„Ach, wer vertilgt ihn wohl von des Daseins Spur“ — stimmte sie an und vertiefte sich so sehr in die Rolle Armidens, daß sie das Klopfen an der Thür überhörte und plötzlich Selvar neben ihr stand.

Es war das erste Mal, daß er sie in ihrer Wohnung besuchte. Bisher hatte er vermieden, in die Stadt zu kommen; nun wollte er beim Vertauschen seines Landgutes mit dem Winteraufenthalt ihr einige Zimmer seines Hauses anbieten, wo sie unter dem Schutze seiner Familie, wie er ihr vorstellte, schicklicher in der großen Stadt existiren könne, als so allein bei fremden Menschen.

So reizend es Ida erschien, mit ihm unter Einem Dache zu leben, so süß sie sich dort in ein innigeres

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0029"/>
Caricaturen wirkliche Liebe und wirklichen      Schmerz aussprächen! Nur Lüge und Affectation ist in dieser Musik, und was sollen wir von den      vornehmen Empfindungen der Salonmenschen Besseres halten, wenn sie sagen: das ist unsere      Sprache. Und Alceste, Iphigenie sollen nicht mehr von der Gegenwart verstanden werden können?      Was ist denn ewig und allen Generationen aufgeschlossen, wenn nicht die geheiligten Triebe der      Eltern-, Gatten- und Geschwisterliebe, für die Gluck die wahrhafteste und einfachste Sprache      gefunden hat? Der Stolz und die Hingebung Armidens, leben sie nicht neu in jedem Herzen auf,      das von der Leidenschaft für die Schönheit nach verzweifelten Kämpfen überwältigt wird?</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ach, wer vertilgt ihn wohl von des Daseins Spur&#x201C; &#x2014; stimmte sie an und vertiefte sich so sehr      in die Rolle Armidens, daß sie das Klopfen an der Thür überhörte und plötzlich Selvar neben ihr      stand.</p><lb/>
        <p>Es war das erste Mal, daß er sie in ihrer Wohnung besuchte. Bisher hatte er vermieden, in die      Stadt zu kommen; nun wollte er beim Vertauschen seines Landgutes mit dem Winteraufenthalt ihr      einige Zimmer seines Hauses anbieten, wo sie unter dem Schutze seiner Familie, wie er ihr      vorstellte, schicklicher in der großen Stadt existiren könne, als so allein bei fremden      Menschen.</p><lb/>
        <p>So reizend es Ida erschien, mit ihm unter Einem Dache zu leben, so süß sie sich dort in ein      innigeres<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0029] Caricaturen wirkliche Liebe und wirklichen Schmerz aussprächen! Nur Lüge und Affectation ist in dieser Musik, und was sollen wir von den vornehmen Empfindungen der Salonmenschen Besseres halten, wenn sie sagen: das ist unsere Sprache. Und Alceste, Iphigenie sollen nicht mehr von der Gegenwart verstanden werden können? Was ist denn ewig und allen Generationen aufgeschlossen, wenn nicht die geheiligten Triebe der Eltern-, Gatten- und Geschwisterliebe, für die Gluck die wahrhafteste und einfachste Sprache gefunden hat? Der Stolz und die Hingebung Armidens, leben sie nicht neu in jedem Herzen auf, das von der Leidenschaft für die Schönheit nach verzweifelten Kämpfen überwältigt wird? „Ach, wer vertilgt ihn wohl von des Daseins Spur“ — stimmte sie an und vertiefte sich so sehr in die Rolle Armidens, daß sie das Klopfen an der Thür überhörte und plötzlich Selvar neben ihr stand. Es war das erste Mal, daß er sie in ihrer Wohnung besuchte. Bisher hatte er vermieden, in die Stadt zu kommen; nun wollte er beim Vertauschen seines Landgutes mit dem Winteraufenthalt ihr einige Zimmer seines Hauses anbieten, wo sie unter dem Schutze seiner Familie, wie er ihr vorstellte, schicklicher in der großen Stadt existiren könne, als so allein bei fremden Menschen. So reizend es Ida erschien, mit ihm unter Einem Dache zu leben, so süß sie sich dort in ein innigeres

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/29
Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/29>, abgerufen am 19.04.2024.