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Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Der Graf erinnerte jetzt, daß die Zuhörer sich viel besser an wirklicher Musik, als am Gespräch darüber, ergötzen würden, und bot Ida den Arm, um sie ans Clavier zu führen.

Ida wählte Hummel's ES-Dur-Phantasie, ein Stück, das auf der letzten Grenze desjenigen Gebietes steht, welches ein an Sebastian Bach gewohnter Spieler nicht überschreitet, und dessen anmuthige Verzierungen andererseits noch eben im Stande sind, einen Bellini- Fanatiker zu versöhnen.

Ida's Vorzüge als Spielerin waren besonders groß in mannichfaltigen Schattirungen des Vortrags. Ward sie hie und da in Fertigkeit der Finger übertroffen, so blieb sie doch unnachahmlich in dem Interesse, das sie durch die freie Entfaltung ihrer eigenthümlichen Auffassung einem Tonstück zu geben wußte, so daß es bald wie ein Drama, bald wie ein Bild erschien, wobei sie dennoch nie die Schranken überschritt, die der Wille des Komponisten vorschrieb. Kam sie in Feuer, so beflügelten sich ihre Finger, die Wangen rötheten sich, und das schwarze Auge leuchtete auf.

Selvar betrachtete sie während des Spiels und wunderte sich über die Veränderung ihrer Züge, die ihm vorher so unbedeutend erschienen waren. Fein und klug wußte er ihr, als sie aufstand, die üblichen Schmeicheleien in einer ganz neuen Weise zu sagen, so daß sie mehr wie eine Beurtheilung, die er an die Anwesenden richtete, und nicht wie Complimente klangen.

Der Graf erinnerte jetzt, daß die Zuhörer sich viel besser an wirklicher Musik, als am Gespräch darüber, ergötzen würden, und bot Ida den Arm, um sie ans Clavier zu führen.

Ida wählte Hummel's ES-Dur-Phantasie, ein Stück, das auf der letzten Grenze desjenigen Gebietes steht, welches ein an Sebastian Bach gewohnter Spieler nicht überschreitet, und dessen anmuthige Verzierungen andererseits noch eben im Stande sind, einen Bellini- Fanatiker zu versöhnen.

Ida's Vorzüge als Spielerin waren besonders groß in mannichfaltigen Schattirungen des Vortrags. Ward sie hie und da in Fertigkeit der Finger übertroffen, so blieb sie doch unnachahmlich in dem Interesse, das sie durch die freie Entfaltung ihrer eigenthümlichen Auffassung einem Tonstück zu geben wußte, so daß es bald wie ein Drama, bald wie ein Bild erschien, wobei sie dennoch nie die Schranken überschritt, die der Wille des Komponisten vorschrieb. Kam sie in Feuer, so beflügelten sich ihre Finger, die Wangen rötheten sich, und das schwarze Auge leuchtete auf.

Selvar betrachtete sie während des Spiels und wunderte sich über die Veränderung ihrer Züge, die ihm vorher so unbedeutend erschienen waren. Fein und klug wußte er ihr, als sie aufstand, die üblichen Schmeicheleien in einer ganz neuen Weise zu sagen, so daß sie mehr wie eine Beurtheilung, die er an die Anwesenden richtete, und nicht wie Complimente klangen.

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[0016] Der Graf erinnerte jetzt, daß die Zuhörer sich viel besser an wirklicher Musik, als am Gespräch darüber, ergötzen würden, und bot Ida den Arm, um sie ans Clavier zu führen. Ida wählte Hummel's ES-Dur-Phantasie, ein Stück, das auf der letzten Grenze desjenigen Gebietes steht, welches ein an Sebastian Bach gewohnter Spieler nicht überschreitet, und dessen anmuthige Verzierungen andererseits noch eben im Stande sind, einen Bellini- Fanatiker zu versöhnen. Ida's Vorzüge als Spielerin waren besonders groß in mannichfaltigen Schattirungen des Vortrags. Ward sie hie und da in Fertigkeit der Finger übertroffen, so blieb sie doch unnachahmlich in dem Interesse, das sie durch die freie Entfaltung ihrer eigenthümlichen Auffassung einem Tonstück zu geben wußte, so daß es bald wie ein Drama, bald wie ein Bild erschien, wobei sie dennoch nie die Schranken überschritt, die der Wille des Komponisten vorschrieb. Kam sie in Feuer, so beflügelten sich ihre Finger, die Wangen rötheten sich, und das schwarze Auge leuchtete auf. Selvar betrachtete sie während des Spiels und wunderte sich über die Veränderung ihrer Züge, die ihm vorher so unbedeutend erschienen waren. Fein und klug wußte er ihr, als sie aufstand, die üblichen Schmeicheleien in einer ganz neuen Weise zu sagen, so daß sie mehr wie eine Beurtheilung, die er an die Anwesenden richtete, und nicht wie Complimente klangen.

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

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Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/16>, abgerufen am 25.04.2024.