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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834.

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Anna Maria. Ich bin geboren den 12. September 1412 (das
Mädchen ist den 12. September 1812 geboren). Im zwölften
Jahre meines Alters bin ich mit Hader und Zank ins Kloster
gekommen, ich habe niemals in's Kloster gewollt."

Das Mädchen fragte: "Was hast du denn verbrochen?"
Der Geist antwortete: Das kann ich dir noch nicht eröffnen."

So oft nun der Geist zu dem Mädchen kam, sprach er gegen
sie nur religöse Worte, meistens Stellen aus der Bibel,
die sonst dem Mädchen gar nicht im Gedächtnisse waren *).
Dabey sagte er: "Man wird meinen, weil ich eine Nonne
gewesen, wisse ich nichts von der Bibel, aber ich weiß bald
alles in ihr. Er betete meistens den 116. Psalmen.

Einmal sagte das Mädchen zum Geist: "Vor nicht langer
Zeit war ein Geistlicher bey mir, der gab mir auf, dich zu
fragen: ob du nicht auch andern erscheinen könntest, man
würde dann eher glauben, daß du nicht blos ein Trug meines
Gehirnes seyest." Darauf antwortete der Geist: "Kommt
wieder ein Geistlicher, so sage ihm, er werde wohl das,
was in den vier Evangelien stehe, auch nicht glauben, weil
er es nicht mit Augen gesehen. Es sagte auch ein an-
derer Geistlicher zu dir (das war wirklich so) du sollest sagen
wie ich (der Geist) beschaffen sey. Spricht einer wieder so,
so sage ihm: er solle einen Tag in die Sonne sehen
und dann soll er sagen, wie die Sonne beschaf-
fen sey
."

Das Mädchen sagte: "Aber die Leute würden es doch eher
glauben, würdest du auch andern erscheinen!" Auf dieß sprach

*) Herr Pfarrer Gerber schreibt von diesem Mädchen: "Das
Mädchen selbst zeichnete sich in der Schule durch ihre guten
Sitten und ihre Gutmüthigkeit aus, hatte aber wenig Anlage
zum Lernen, und verließ daher die Schule mit ganz geringen
Kenntnissen. Das Lob eines sittlichen Wandels erhielt sie auch
nach der Schule, und entzog sich zwar den Lustbarkeiten der
jungen Leute des Dorfes nicht, war aber doch die erste, welche
sich wieder zurückzog."

Anna Maria. Ich bin geboren den 12. September 1412 (das
Mädchen iſt den 12. September 1812 geboren). Im zwölften
Jahre meines Alters bin ich mit Hader und Zank ins Kloſter
gekommen, ich habe niemals in’s Kloſter gewollt.“

Das Mädchen fragte: „Was haſt du denn verbrochen?“
Der Geiſt antwortete: Das kann ich dir noch nicht eröffnen.“

So oft nun der Geiſt zu dem Mädchen kam, ſprach er gegen
ſie nur religöſe Worte, meiſtens Stellen aus der Bibel,
die ſonſt dem Mädchen gar nicht im Gedächtniſſe waren *).
Dabey ſagte er: „Man wird meinen, weil ich eine Nonne
geweſen, wiſſe ich nichts von der Bibel, aber ich weiß bald
alles in ihr. Er betete meiſtens den 116. Pſalmen.

Einmal ſagte das Mädchen zum Geiſt: „Vor nicht langer
Zeit war ein Geiſtlicher bey mir, der gab mir auf, dich zu
fragen: ob du nicht auch andern erſcheinen könnteſt, man
würde dann eher glauben, daß du nicht blos ein Trug meines
Gehirnes ſeyeſt.“ Darauf antwortete der Geiſt: „Kommt
wieder ein Geiſtlicher, ſo ſage ihm, er werde wohl das,
was in den vier Evangelien ſtehe, auch nicht glauben, weil
er es nicht mit Augen geſehen. Es ſagte auch ein an-
derer Geiſtlicher zu dir (das war wirklich ſo) du ſolleſt ſagen
wie ich (der Geiſt) beſchaffen ſey. Spricht einer wieder ſo,
ſo ſage ihm: er ſolle einen Tag in die Sonne ſehen
und dann ſoll er ſagen, wie die Sonne beſchaf-
fen ſey
.“

Das Mädchen ſagte: „Aber die Leute würden es doch eher
glauben, würdeſt du auch andern erſcheinen!“ Auf dieß ſprach

*) Herr Pfarrer Gerber ſchreibt von dieſem Mädchen: „Das
Mädchen ſelbſt zeichnete ſich in der Schule durch ihre guten
Sitten und ihre Gutmüthigkeit aus, hatte aber wenig Anlage
zum Lernen, und verließ daher die Schule mit ganz geringen
Kenntniſſen. Das Lob eines ſittlichen Wandels erhielt ſie auch
nach der Schule, und entzog ſich zwar den Luſtbarkeiten der
jungen Leute des Dorfes nicht, war aber doch die erſte, welche
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[24/0038] Anna Maria. Ich bin geboren den 12. September 1412 (das Mädchen iſt den 12. September 1812 geboren). Im zwölften Jahre meines Alters bin ich mit Hader und Zank ins Kloſter gekommen, ich habe niemals in’s Kloſter gewollt.“ Das Mädchen fragte: „Was haſt du denn verbrochen?“ Der Geiſt antwortete: Das kann ich dir noch nicht eröffnen.“ So oft nun der Geiſt zu dem Mädchen kam, ſprach er gegen ſie nur religöſe Worte, meiſtens Stellen aus der Bibel, die ſonſt dem Mädchen gar nicht im Gedächtniſſe waren *). Dabey ſagte er: „Man wird meinen, weil ich eine Nonne geweſen, wiſſe ich nichts von der Bibel, aber ich weiß bald alles in ihr. Er betete meiſtens den 116. Pſalmen. Einmal ſagte das Mädchen zum Geiſt: „Vor nicht langer Zeit war ein Geiſtlicher bey mir, der gab mir auf, dich zu fragen: ob du nicht auch andern erſcheinen könnteſt, man würde dann eher glauben, daß du nicht blos ein Trug meines Gehirnes ſeyeſt.“ Darauf antwortete der Geiſt: „Kommt wieder ein Geiſtlicher, ſo ſage ihm, er werde wohl das, was in den vier Evangelien ſtehe, auch nicht glauben, weil er es nicht mit Augen geſehen. Es ſagte auch ein an- derer Geiſtlicher zu dir (das war wirklich ſo) du ſolleſt ſagen wie ich (der Geiſt) beſchaffen ſey. Spricht einer wieder ſo, ſo ſage ihm: er ſolle einen Tag in die Sonne ſehen und dann ſoll er ſagen, wie die Sonne beſchaf- fen ſey.“ Das Mädchen ſagte: „Aber die Leute würden es doch eher glauben, würdeſt du auch andern erſcheinen!“ Auf dieß ſprach *) Herr Pfarrer Gerber ſchreibt von dieſem Mädchen: „Das Mädchen ſelbſt zeichnete ſich in der Schule durch ihre guten Sitten und ihre Gutmüthigkeit aus, hatte aber wenig Anlage zum Lernen, und verließ daher die Schule mit ganz geringen Kenntniſſen. Das Lob eines ſittlichen Wandels erhielt ſie auch nach der Schule, und entzog ſich zwar den Luſtbarkeiten der jungen Leute des Dorfes nicht, war aber doch die erſte, welche ſich wieder zurückzog.“

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Zitationshilfe: Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/38>, abgerufen am 28.03.2024.