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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834.

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kann *). Es fällt also hier die Frage vor, auf welcher
Seite das Irrereden ist. Sagen wir aber (denn dieß ist der
neueste Schlupfwinkel der Zeit), die Evangelisten hätten als
Juden solche Verrückte und Epileptische wirklich für besessen
gehalten, daraus aber folge noch nichts für die Sache selbst,
so wenig wie bey den Wundern, welche die Evangelisten
als Juden auch geglaubt und als Wunder erzählt hätten;
so sehen wir nicht nur Matth. C. 17, daß wo der Vater als
Jude seinen Sohn blos mondsüchtig nennt, Jesus und
der Evangelist als solcher ihn für besessen erklärt **),
sondern die Bibel ist nun, wie gesagt, nicht mehr Gottes-,
sondern Menschenwort, und zwar das Wort von Menschen,
die mit den thörigsten Vorurtheilen besessen waren. Wir
haben demnach nichts Angelegentlicheres zu thun, als das
Evangelium aus den Kirchen und Schulen zu verbannen,
und dafür rein-vernünftige Fibeln und Lehrbücher für Er-
wachsene einzuführen, weil die Evangelisten unter aller Kritik
abergläubische Juden waren, die Jesum und seine Religion
gar nicht verstanden; dagegen wir einen reinen Jesum auf-
stellen können. Ich fühle mich hier versucht, ein wenig über
Besessenheit zu scherzen; aber mir fällt Pauli Wort allzu-
schwer aufs Herz im Briefe an die Galater C. I, 8. "So
Jemand euch Evangelium predigt anders, denn
das ihr empfangen habt, der sey verflucht
."


*) Anmerkung. Unter der Rede: "Bist du gekommen, uns zu
quälen, ehe dann es Zeit ist?" verstund der Dämon nichts An-
deres, als: "die Zeit, wo unser Herr (der Teufel) uns nicht
mehr erlauben wird, in diesem Menschen, dem für uns noch
erträglicheren Orte, zu bleiben, ist noch nicht gekommen; nachher
müssen wir in die Qual, in die du uns jetzt schon senden willst.
Laß uns nur noch, bis jene Zeit kommt."
**) Der Vater sagte zu Jesus: "Herr, erbarme dich über meinen
Sohn, denn er ist mondsüchtig und hat ein schweres Leiden;
er fällt oft ins Feuer und oft ins Wasser." Dann heißt es:
"und Jesus bedräuete ihn und der Dämon fuhr aus von ihm,
und der Knabe war gesund zu derselbigen Stund."

kann *). Es fällt alſo hier die Frage vor, auf welcher
Seite das Irrereden iſt. Sagen wir aber (denn dieß iſt der
neueſte Schlupfwinkel der Zeit), die Evangeliſten hätten als
Juden ſolche Verrückte und Epileptiſche wirklich für beſeſſen
gehalten, daraus aber folge noch nichts für die Sache ſelbſt,
ſo wenig wie bey den Wundern, welche die Evangeliſten
als Juden auch geglaubt und als Wunder erzählt hätten;
ſo ſehen wir nicht nur Matth. C. 17, daß wo der Vater als
Jude ſeinen Sohn blos mondſüchtig nennt, Jeſus und
der Evangeliſt als ſolcher ihn für beſeſſen erklärt **),
ſondern die Bibel iſt nun, wie geſagt, nicht mehr Gottes-,
ſondern Menſchenwort, und zwar das Wort von Menſchen,
die mit den thörigſten Vorurtheilen beſeſſen waren. Wir
haben demnach nichts Angelegentlicheres zu thun, als das
Evangelium aus den Kirchen und Schulen zu verbannen,
und dafür rein-vernünftige Fibeln und Lehrbücher für Er-
wachſene einzuführen, weil die Evangeliſten unter aller Kritik
abergläubiſche Juden waren, die Jeſum und ſeine Religion
gar nicht verſtanden; dagegen wir einen reinen Jeſum auf-
ſtellen können. Ich fühle mich hier verſucht, ein wenig über
Beſeſſenheit zu ſcherzen; aber mir fällt Pauli Wort allzu-
ſchwer aufs Herz im Briefe an die Galater C. I, 8. „So
Jemand euch Evangelium predigt anders, denn
das ihr empfangen habt, der ſey verflucht
.“


*) Anmerkung. Unter der Rede: „Biſt du gekommen, uns zu
quälen, ehe dann es Zeit iſt?“ verſtund der Dämon nichts An-
deres, als: „die Zeit, wo unſer Herr (der Teufel) uns nicht
mehr erlauben wird, in dieſem Menſchen, dem für uns noch
erträglicheren Orte, zu bleiben, iſt noch nicht gekommen; nachher
müſſen wir in die Qual, in die du uns jetzt ſchon ſenden willſt.
Laß uns nur noch, bis jene Zeit kommt.“
**) Der Vater ſagte zu Jeſus: „Herr, erbarme dich über meinen
Sohn, denn er iſt mondſüchtig und hat ein ſchweres Leiden;
er fällt oft ins Feuer und oft ins Waſſer.“ Dann heißt es:
„und Jeſus bedräuete ihn und der Dämon fuhr aus von ihm,
und der Knabe war geſund zu derſelbigen Stund.“
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[11/0025] kann *). Es fällt alſo hier die Frage vor, auf welcher Seite das Irrereden iſt. Sagen wir aber (denn dieß iſt der neueſte Schlupfwinkel der Zeit), die Evangeliſten hätten als Juden ſolche Verrückte und Epileptiſche wirklich für beſeſſen gehalten, daraus aber folge noch nichts für die Sache ſelbſt, ſo wenig wie bey den Wundern, welche die Evangeliſten als Juden auch geglaubt und als Wunder erzählt hätten; ſo ſehen wir nicht nur Matth. C. 17, daß wo der Vater als Jude ſeinen Sohn blos mondſüchtig nennt, Jeſus und der Evangeliſt als ſolcher ihn für beſeſſen erklärt **), ſondern die Bibel iſt nun, wie geſagt, nicht mehr Gottes-, ſondern Menſchenwort, und zwar das Wort von Menſchen, die mit den thörigſten Vorurtheilen beſeſſen waren. Wir haben demnach nichts Angelegentlicheres zu thun, als das Evangelium aus den Kirchen und Schulen zu verbannen, und dafür rein-vernünftige Fibeln und Lehrbücher für Er- wachſene einzuführen, weil die Evangeliſten unter aller Kritik abergläubiſche Juden waren, die Jeſum und ſeine Religion gar nicht verſtanden; dagegen wir einen reinen Jeſum auf- ſtellen können. Ich fühle mich hier verſucht, ein wenig über Beſeſſenheit zu ſcherzen; aber mir fällt Pauli Wort allzu- ſchwer aufs Herz im Briefe an die Galater C. I, 8. „So Jemand euch Evangelium predigt anders, denn das ihr empfangen habt, der ſey verflucht.“ *) Anmerkung. Unter der Rede: „Biſt du gekommen, uns zu quälen, ehe dann es Zeit iſt?“ verſtund der Dämon nichts An- deres, als: „die Zeit, wo unſer Herr (der Teufel) uns nicht mehr erlauben wird, in dieſem Menſchen, dem für uns noch erträglicheren Orte, zu bleiben, iſt noch nicht gekommen; nachher müſſen wir in die Qual, in die du uns jetzt ſchon ſenden willſt. Laß uns nur noch, bis jene Zeit kommt.“ **) Der Vater ſagte zu Jeſus: „Herr, erbarme dich über meinen Sohn, denn er iſt mondſüchtig und hat ein ſchweres Leiden; er fällt oft ins Feuer und oft ins Waſſer.“ Dann heißt es: „und Jeſus bedräuete ihn und der Dämon fuhr aus von ihm, und der Knabe war geſund zu derſelbigen Stund.“

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Zitationshilfe: Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/25>, abgerufen am 29.03.2024.