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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834.

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rückte als Besessene (obgleich im Ausdruck besessen seyn zu-
gleich der Begriff des Wahnsinns liegt); denn sie erkannten
den Unterschied gar wohl.

Lucian sagt, indem er vom Besessenseyn spricht: "Allen
ist Syrus aus Palästina bekannt, welcher die Kunst ver-
steht, Leute, welche gegen den Mond zu Boden fielen, die
Augen dabey verdrehten und den Mund voll Schaum be-
kamen, aufzurichten und zu heilen. Wenn er zu den von
der Krankheit Befallenen hintritt und fragt: woher sie in
den Körper gekommen seyen? so spricht der Kranke
selbst nicht
, der Dämon aber antwortet in griechischer
oder fremder Sprache, je nach dem er selbst aus einer
Gegend ist
, wie und woher er in den Menschen gekommen
sey; Syrus aber treibt dann den Dämon durch Beschwö-
rungen, oder wenn diese nicht wirken, durch Drohungen
aus."

Die Juden sagten wohl von jedem Kranken, daß er von
einem bösen Geiste gequält werde, aber sie sagten nicht
von einem Jeden, der krank war, daß er von einem Dämon
besessen sey. Des Besessenseyns wurde von ihnen nur da
erwähnt, wo es charakteristisch auch nur wirklich da war.

Das neue Testament, welches von dem Wunder der Aus-
treibung mit besonderem Nachdruck spricht, öfter und nach-
drücklicher, als von all den andern Wundern, gab uns auch
ein so klares Bild von diesem Besessenseyn, daß wir jetzt
nach den vielen Jahrhunderten durch die in der neuesten
Zeit beobachteten Dämonischen wieder lebhaft an dasselbe
erinnert werden; mag auch problematisch bleiben, ob diese
Fälle streng genommen zu jenen Besitzungen in älterer Bedeu-
tung gehören.

Christus und seine Apostel trugen die wirkliche Lehre von
Besitzungen vor und behaupteten sie, und wäre es eine irrige
Lehre, so hätten die inspirirten Lehrer des Evangeliums
nothwendig von einem Irrthume frey seyn müssen, der sich
unglücklicherweise der Religion beymischte, die sie auszu-
breiten suchten, und sie hätten also den Irrthum vielmehr

rückte als Beſeſſene (obgleich im Ausdruck beſeſſen ſeyn zu-
gleich der Begriff des Wahnſinns liegt); denn ſie erkannten
den Unterſchied gar wohl.

Lucian ſagt, indem er vom Beſeſſenſeyn ſpricht: „Allen
iſt Syrus aus Paläſtina bekannt, welcher die Kunſt ver-
ſteht, Leute, welche gegen den Mond zu Boden fielen, die
Augen dabey verdrehten und den Mund voll Schaum be-
kamen, aufzurichten und zu heilen. Wenn er zu den von
der Krankheit Befallenen hintritt und fragt: woher ſie in
den Körper gekommen ſeyen? ſo ſpricht der Kranke
ſelbſt nicht
, der Dämon aber antwortet in griechiſcher
oder fremder Sprache, je nach dem er ſelbſt aus einer
Gegend iſt
, wie und woher er in den Menſchen gekommen
ſey; Syrus aber treibt dann den Dämon durch Beſchwö-
rungen, oder wenn dieſe nicht wirken, durch Drohungen
aus.“

Die Juden ſagten wohl von jedem Kranken, daß er von
einem böſen Geiſte gequält werde, aber ſie ſagten nicht
von einem Jeden, der krank war, daß er von einem Dämon
beſeſſen ſey. Des Beſeſſenſeyns wurde von ihnen nur da
erwähnt, wo es charakteriſtiſch auch nur wirklich da war.

Das neue Teſtament, welches von dem Wunder der Aus-
treibung mit beſonderem Nachdruck ſpricht, öfter und nach-
drücklicher, als von all den andern Wundern, gab uns auch
ein ſo klares Bild von dieſem Beſeſſenſeyn, daß wir jetzt
nach den vielen Jahrhunderten durch die in der neueſten
Zeit beobachteten Dämoniſchen wieder lebhaft an daſſelbe
erinnert werden; mag auch problematiſch bleiben, ob dieſe
Fälle ſtreng genommen zu jenen Beſitzungen in älterer Bedeu-
tung gehören.

Chriſtus und ſeine Apoſtel trugen die wirkliche Lehre von
Beſitzungen vor und behaupteten ſie, und wäre es eine irrige
Lehre, ſo hätten die inſpirirten Lehrer des Evangeliums
nothwendig von einem Irrthume frey ſeyn müſſen, der ſich
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[2/0016] rückte als Beſeſſene (obgleich im Ausdruck beſeſſen ſeyn zu- gleich der Begriff des Wahnſinns liegt); denn ſie erkannten den Unterſchied gar wohl. Lucian ſagt, indem er vom Beſeſſenſeyn ſpricht: „Allen iſt Syrus aus Paläſtina bekannt, welcher die Kunſt ver- ſteht, Leute, welche gegen den Mond zu Boden fielen, die Augen dabey verdrehten und den Mund voll Schaum be- kamen, aufzurichten und zu heilen. Wenn er zu den von der Krankheit Befallenen hintritt und fragt: woher ſie in den Körper gekommen ſeyen? ſo ſpricht der Kranke ſelbſt nicht, der Dämon aber antwortet in griechiſcher oder fremder Sprache, je nach dem er ſelbſt aus einer Gegend iſt, wie und woher er in den Menſchen gekommen ſey; Syrus aber treibt dann den Dämon durch Beſchwö- rungen, oder wenn dieſe nicht wirken, durch Drohungen aus.“ Die Juden ſagten wohl von jedem Kranken, daß er von einem böſen Geiſte gequält werde, aber ſie ſagten nicht von einem Jeden, der krank war, daß er von einem Dämon beſeſſen ſey. Des Beſeſſenſeyns wurde von ihnen nur da erwähnt, wo es charakteriſtiſch auch nur wirklich da war. Das neue Teſtament, welches von dem Wunder der Aus- treibung mit beſonderem Nachdruck ſpricht, öfter und nach- drücklicher, als von all den andern Wundern, gab uns auch ein ſo klares Bild von dieſem Beſeſſenſeyn, daß wir jetzt nach den vielen Jahrhunderten durch die in der neueſten Zeit beobachteten Dämoniſchen wieder lebhaft an daſſelbe erinnert werden; mag auch problematiſch bleiben, ob dieſe Fälle ſtreng genommen zu jenen Beſitzungen in älterer Bedeu- tung gehören. Chriſtus und ſeine Apoſtel trugen die wirkliche Lehre von Beſitzungen vor und behaupteten ſie, und wäre es eine irrige Lehre, ſo hätten die inſpirirten Lehrer des Evangeliums nothwendig von einem Irrthume frey ſeyn müſſen, der ſich unglücklicherweiſe der Religion beymiſchte, die ſie auszu- breiten ſuchten, und ſie hätten alſo den Irrthum vielmehr

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Zitationshilfe: Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/16>, abgerufen am 29.03.2024.