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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Verstand, oder mehr zu essen, oder beides zu¬
sammen erhielten.

Besagte Kinder aber zeigten verschiedene Ei¬
genschaften. Der Sohn war ein unansehnlicher
Knabe von vierzehn Jahren, mit grauen Augen
und ernsthaften Gesichtszügen, welcher des Mor¬
gens lang im Bette lag, dann ein wenig in
einem zerrissenen Geschichts- und Geographiebuche
las, und alle Abend, Sommers wie Winters, auf
den Berg lief, um dem Sonnenuntergang beizu¬
wohnen, welches die einzige glänzende und pomp¬
hafte Begebenheit war, welche sich für ihn zu¬
trug. Sie schien für ihn etwa das zu sein,
was für die Kaufleute der Mittag auf der
Börse; wenigstens kam er mit eben so abwech¬
selnder Stimmung von diesem Vorgang zurück,
und wenn es recht rothes und gelbes Gewölk
gegeben hatte, welches gleich großen Schlacht¬
heeren in Blut und Feuer gestanden und maje¬
stätisch manövrirte, so war er eigentlich vergnügt
zu nennen.

Dann und wann, jedoch nur selten, beschrieb
er ein Blatt Papier mit seltsamen Listen und
Zahlen, welches er dann zu einem kleinen Bün¬

Verſtand, oder mehr zu eſſen, oder beides zu¬
ſammen erhielten.

Beſagte Kinder aber zeigten verſchiedene Ei¬
genſchaften. Der Sohn war ein unanſehnlicher
Knabe von vierzehn Jahren, mit grauen Augen
und ernſthaften Geſichtszügen, welcher des Mor¬
gens lang im Bette lag, dann ein wenig in
einem zerriſſenen Geſchichts- und Geographiebuche
las, und alle Abend, Sommers wie Winters, auf
den Berg lief, um dem Sonnenuntergang beizu¬
wohnen, welches die einzige glänzende und pomp¬
hafte Begebenheit war, welche ſich für ihn zu¬
trug. Sie ſchien für ihn etwa das zu ſein,
was für die Kaufleute der Mittag auf der
Börſe; wenigſtens kam er mit eben ſo abwech¬
ſelnder Stimmung von dieſem Vorgang zurück,
und wenn es recht rothes und gelbes Gewölk
gegeben hatte, welches gleich großen Schlacht¬
heeren in Blut und Feuer geſtanden und maje¬
ſtätiſch manövrirte, ſo war er eigentlich vergnügt
zu nennen.

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er ein Blatt Papier mit ſeltſamen Liſten und
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[11/0023] Verſtand, oder mehr zu eſſen, oder beides zu¬ ſammen erhielten. Beſagte Kinder aber zeigten verſchiedene Ei¬ genſchaften. Der Sohn war ein unanſehnlicher Knabe von vierzehn Jahren, mit grauen Augen und ernſthaften Geſichtszügen, welcher des Mor¬ gens lang im Bette lag, dann ein wenig in einem zerriſſenen Geſchichts- und Geographiebuche las, und alle Abend, Sommers wie Winters, auf den Berg lief, um dem Sonnenuntergang beizu¬ wohnen, welches die einzige glänzende und pomp¬ hafte Begebenheit war, welche ſich für ihn zu¬ trug. Sie ſchien für ihn etwa das zu ſein, was für die Kaufleute der Mittag auf der Börſe; wenigſtens kam er mit eben ſo abwech¬ ſelnder Stimmung von dieſem Vorgang zurück, und wenn es recht rothes und gelbes Gewölk gegeben hatte, welches gleich großen Schlacht¬ heeren in Blut und Feuer geſtanden und maje¬ ſtätiſch manövrirte, ſo war er eigentlich vergnügt zu nennen. Dann und wann, jedoch nur ſelten, beſchrieb er ein Blatt Papier mit ſeltſamen Liſten und Zahlen, welches er dann zu einem kleinen Bün¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/23>, abgerufen am 18.04.2024.