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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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sammt Brunnen und Nachtigall, die kunstreichen
Dämonen, so das lebende Bild gemacht, entflohen
als üble Geister mit ängstlichem Wimmern, ihren
Herrn im Stich lassend, und dieser rang mit Titanen¬
gewalt, sich aus der qualvollen Umarmung loszu¬
winden, ohne aber einen Laut zu verlieren.

Die Jungfrau hielt sich aber tapfer und entließ
ihn nicht, obgleich sie alle Kraft zusammennehmen
mußte; sie hatte nichts Minderes im Sinn, als den
überlisteten Teufel vor den Himmel zu tragen und
ihn dort in all' seinem Elend zum Gelächter der
Seligen an einen Thürpfosten zu binden.

Allein der Böse änderte seine Kampfweise, hielt
sich ein Weilchen still und nahm die Schönheit an,
welche er einst als der schönste Engel besessen, so daß
es der himmlischen Schönheit Marias nahe ging.
Sie erhöhte sich, so viel als möglich; aber wenn sie
glänzte wie Venus, der schöne Abendstern, so leuchtete
Jener wie Luzifer, der helle Morgenstern, so daß auf
der dunklen Haide ein Leuchten begann, als wären die
Himmel selbst herniedergestiegen.

Als die Jungfrau merkte, daß sie zu viel unter¬
nommen und ihre Kräfte schwanden, begnügte sie sich den
Feind gegen Verzicht auf die Grafenfrau zu entlassen,
und alsbald fuhren die himmlische und die höllische
Schönheit auseinander mit großer Gewalt. Die Jung¬

ſammt Brunnen und Nachtigall, die kunſtreichen
Dämonen, ſo das lebende Bild gemacht, entflohen
als üble Geiſter mit ängſtlichem Wimmern, ihren
Herrn im Stich laſſend, und dieſer rang mit Titanen¬
gewalt, ſich aus der qualvollen Umarmung loszu¬
winden, ohne aber einen Laut zu verlieren.

Die Jungfrau hielt ſich aber tapfer und entließ
ihn nicht, obgleich ſie alle Kraft zuſammennehmen
mußte; ſie hatte nichts Minderes im Sinn, als den
überliſteten Teufel vor den Himmel zu tragen und
ihn dort in all' ſeinem Elend zum Gelächter der
Seligen an einen Thürpfoſten zu binden.

Allein der Böſe änderte ſeine Kampfweiſe, hielt
ſich ein Weilchen ſtill und nahm die Schönheit an,
welche er einſt als der ſchönſte Engel beſeſſen, ſo daß
es der himmliſchen Schönheit Marias nahe ging.
Sie erhöhte ſich, ſo viel als möglich; aber wenn ſie
glänzte wie Venus, der ſchöne Abendſtern, ſo leuchtete
Jener wie Luzifer, der helle Morgenſtern, ſo daß auf
der dunklen Haide ein Leuchten begann, als wären die
Himmel ſelbſt herniedergeſtiegen.

Als die Jungfrau merkte, daß ſie zu viel unter¬
nommen und ihre Kräfte ſchwanden, begnügte ſie ſich den
Feind gegen Verzicht auf die Grafenfrau zu entlaſſen,
und alsbald fuhren die himmliſche und die hölliſche
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[41/0055] ſammt Brunnen und Nachtigall, die kunſtreichen Dämonen, ſo das lebende Bild gemacht, entflohen als üble Geiſter mit ängſtlichem Wimmern, ihren Herrn im Stich laſſend, und dieſer rang mit Titanen¬ gewalt, ſich aus der qualvollen Umarmung loszu¬ winden, ohne aber einen Laut zu verlieren. Die Jungfrau hielt ſich aber tapfer und entließ ihn nicht, obgleich ſie alle Kraft zuſammennehmen mußte; ſie hatte nichts Minderes im Sinn, als den überliſteten Teufel vor den Himmel zu tragen und ihn dort in all' ſeinem Elend zum Gelächter der Seligen an einen Thürpfoſten zu binden. Allein der Böſe änderte ſeine Kampfweiſe, hielt ſich ein Weilchen ſtill und nahm die Schönheit an, welche er einſt als der ſchönſte Engel beſeſſen, ſo daß es der himmliſchen Schönheit Marias nahe ging. Sie erhöhte ſich, ſo viel als möglich; aber wenn ſie glänzte wie Venus, der ſchöne Abendſtern, ſo leuchtete Jener wie Luzifer, der helle Morgenſtern, ſo daß auf der dunklen Haide ein Leuchten begann, als wären die Himmel ſelbſt herniedergeſtiegen. Als die Jungfrau merkte, daß ſie zu viel unter¬ nommen und ihre Kräfte ſchwanden, begnügte ſie ſich den Feind gegen Verzicht auf die Grafenfrau zu entlaſſen, und alsbald fuhren die himmliſche und die hölliſche Schönheit auseinander mit großer Gewalt. Die Jung¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/55>, abgerufen am 29.03.2024.