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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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erhob sich Eugenia von ihrem Lager, nahm einen
starken Hammer und ging leise aus dem Kloster, um
das Bild aufzusuchen und zu zerschlagen. Leicht fand
sie den marmorglänzenden Stadttheil, wo die Tempel
und öffentlichen Gebäude lagen und wo sie ihre
Jugendzeit zugebracht hatte. Keine Seele rührte sich
in der stillen Steinwelt; als der weibliche Mönch die
Stufen zum Tempel hinaufging, erhob sich eben der
Mond über die Schatten der Stadt und warf sein
taghelles Licht zwischen die Säulen der Vorhalle
hinein. Da sah Eugenia ihr Bild, weiß wie der ge¬
fallene Schnee, in wunderbarer Anmuth und Schön¬
heit dastehen, die feinfaltigen Gewänder sittig um die
Schultern gezogen, mit begeistertem Blick und leis
lächelndem Munde vor sich hinsehend.

Neugierig schritt die Christin darauf zu, den er¬
hobenen Hammer in der Hand; aber ein füßer Schau¬
der durchfuhr ihr Herz, als sie das Bild in seiner
Deutlichkeit sah, der Hammer sank nieder und laut¬
los weidete sie sich am Anblicke ihres eigenen früheren
Wesens. Eine bittere Wehmuth umfing sie, das Ge¬
fühl, als ob sie aus einer schöneren Welt ausgestoßen
wäre und jetzt als ein glückloser Schatten in der
Oede herum irre; denn wenn das Bild auch zu einem
Ideal erhoben war, so stellte es gerade dadurch das
ursprüngliche innere Wesen Eugenias dar, das durch

erhob ſich Eugenia von ihrem Lager, nahm einen
ſtarken Hammer und ging leiſe aus dem Kloſter, um
das Bild aufzuſuchen und zu zerſchlagen. Leicht fand
ſie den marmorglänzenden Stadttheil, wo die Tempel
und öffentlichen Gebäude lagen und wo ſie ihre
Jugendzeit zugebracht hatte. Keine Seele rührte ſich
in der ſtillen Steinwelt; als der weibliche Mönch die
Stufen zum Tempel hinaufging, erhob ſich eben der
Mond über die Schatten der Stadt und warf ſein
taghelles Licht zwiſchen die Säulen der Vorhalle
hinein. Da ſah Eugenia ihr Bild, weiß wie der ge¬
fallene Schnee, in wunderbarer Anmuth und Schön¬
heit daſtehen, die feinfaltigen Gewänder ſittig um die
Schultern gezogen, mit begeiſtertem Blick und leis
lächelndem Munde vor ſich hinſehend.

Neugierig ſchritt die Chriſtin darauf zu, den er¬
hobenen Hammer in der Hand; aber ein füßer Schau¬
der durchfuhr ihr Herz, als ſie das Bild in ſeiner
Deutlichkeit ſah, der Hammer ſank nieder und laut¬
los weidete ſie ſich am Anblicke ihres eigenen früheren
Weſens. Eine bittere Wehmuth umfing ſie, das Ge¬
fühl, als ob ſie aus einer ſchöneren Welt ausgeſtoßen
wäre und jetzt als ein glückloſer Schatten in der
Oede herum irre; denn wenn das Bild auch zu einem
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[14/0028] erhob ſich Eugenia von ihrem Lager, nahm einen ſtarken Hammer und ging leiſe aus dem Kloſter, um das Bild aufzuſuchen und zu zerſchlagen. Leicht fand ſie den marmorglänzenden Stadttheil, wo die Tempel und öffentlichen Gebäude lagen und wo ſie ihre Jugendzeit zugebracht hatte. Keine Seele rührte ſich in der ſtillen Steinwelt; als der weibliche Mönch die Stufen zum Tempel hinaufging, erhob ſich eben der Mond über die Schatten der Stadt und warf ſein taghelles Licht zwiſchen die Säulen der Vorhalle hinein. Da ſah Eugenia ihr Bild, weiß wie der ge¬ fallene Schnee, in wunderbarer Anmuth und Schön¬ heit daſtehen, die feinfaltigen Gewänder ſittig um die Schultern gezogen, mit begeiſtertem Blick und leis lächelndem Munde vor ſich hinſehend. Neugierig ſchritt die Chriſtin darauf zu, den er¬ hobenen Hammer in der Hand; aber ein füßer Schau¬ der durchfuhr ihr Herz, als ſie das Bild in ſeiner Deutlichkeit ſah, der Hammer ſank nieder und laut¬ los weidete ſie ſich am Anblicke ihres eigenen früheren Weſens. Eine bittere Wehmuth umfing ſie, das Ge¬ fühl, als ob ſie aus einer ſchöneren Welt ausgeſtoßen wäre und jetzt als ein glückloſer Schatten in der Oede herum irre; denn wenn das Bild auch zu einem Ideal erhoben war, ſo ſtellte es gerade dadurch das urſprüngliche innere Weſen Eugenias dar, das durch

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/28>, abgerufen am 28.03.2024.