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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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leiten, ihnen einen höheren menschlichen Werth zuzu¬
schreiben, als sie wirklich haben. Verlegen suchte er
an seinem Gewande herum und bekam dabei jenes
Silberbüchschen in die Hand, welches mit einem
ziemlich werthvollen Amethist geziert war. "Ich habe
nichts, als dies," sagte er, "laß mich hinein dafür!"
Sie nahm das Büchschen, betrachtete es genau und
hieß ihn dann mit hineingehen. In ihrem Schlaf¬
gemache angekommen, sah er sich nicht weiter nach ihr
um, sondern kniete nach seiner Gewohnheit in eine
Ecke und betete mit lauter Stimme.

Die Hetäre, welche glaubte, er wolle seine welt¬
lichen Werke aus geistlicher Gewohnheit mit Gebet
beginnen, erhob ein unbändiges Gelächter und setzte
sich auf ihr Ruhbett, um ihm zuzusehen, da seine
Geberden sie höchlich belustigten. Da das Ding aber
kein Ende nahm und anfing, sie zu langweilen, ent¬
blößte sie unzüchtig ihre Schultern, schritt auf ihn zu,
umstrickte ihn mit ihren weißen starken Armen und
drückte den guten Vitalis mit seinem geschornen und
tonsurirten Kopf so derb gegen ihre Brust, daß er
zu ersticken drohte und zu prusten begann, als ob er
im Fegefeuer stäcke. Es dauerte aber nicht lang, so
fing er an, nach allen Seiten auszuschlagen, wie ein
junges Pferd in der Schmiede, bis er sich von der
höllischen Umschlingung befreit hatte. Dann aber

leiten, ihnen einen höheren menſchlichen Werth zuzu¬
ſchreiben, als ſie wirklich haben. Verlegen ſuchte er
an ſeinem Gewande herum und bekam dabei jenes
Silberbüchschen in die Hand, welches mit einem
ziemlich werthvollen Amethiſt geziert war. „Ich habe
nichts, als dies,“ ſagte er, „laß mich hinein dafür!“
Sie nahm das Büchschen, betrachtete es genau und
hieß ihn dann mit hineingehen. In ihrem Schlaf¬
gemache angekommen, ſah er ſich nicht weiter nach ihr
um, ſondern kniete nach ſeiner Gewohnheit in eine
Ecke und betete mit lauter Stimme.

Die Hetäre, welche glaubte, er wolle ſeine welt¬
lichen Werke aus geiſtlicher Gewohnheit mit Gebet
beginnen, erhob ein unbändiges Gelächter und ſetzte
ſich auf ihr Ruhbett, um ihm zuzuſehen, da ſeine
Geberden ſie höchlich beluſtigten. Da das Ding aber
kein Ende nahm und anfing, ſie zu langweilen, ent¬
blößte ſie unzüchtig ihre Schultern, ſchritt auf ihn zu,
umſtrickte ihn mit ihren weißen ſtarken Armen und
drückte den guten Vitalis mit ſeinem geſchornen und
tonſurirten Kopf ſo derb gegen ihre Bruſt, daß er
zu erſticken drohte und zu pruſten begann, als ob er
im Fegefeuer ſtäcke. Es dauerte aber nicht lang, ſo
fing er an, nach allen Seiten auszuſchlagen, wie ein
junges Pferd in der Schmiede, bis er ſich von der
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[91/0105] leiten, ihnen einen höheren menſchlichen Werth zuzu¬ ſchreiben, als ſie wirklich haben. Verlegen ſuchte er an ſeinem Gewande herum und bekam dabei jenes Silberbüchschen in die Hand, welches mit einem ziemlich werthvollen Amethiſt geziert war. „Ich habe nichts, als dies,“ ſagte er, „laß mich hinein dafür!“ Sie nahm das Büchschen, betrachtete es genau und hieß ihn dann mit hineingehen. In ihrem Schlaf¬ gemache angekommen, ſah er ſich nicht weiter nach ihr um, ſondern kniete nach ſeiner Gewohnheit in eine Ecke und betete mit lauter Stimme. Die Hetäre, welche glaubte, er wolle ſeine welt¬ lichen Werke aus geiſtlicher Gewohnheit mit Gebet beginnen, erhob ein unbändiges Gelächter und ſetzte ſich auf ihr Ruhbett, um ihm zuzuſehen, da ſeine Geberden ſie höchlich beluſtigten. Da das Ding aber kein Ende nahm und anfing, ſie zu langweilen, ent¬ blößte ſie unzüchtig ihre Schultern, ſchritt auf ihn zu, umſtrickte ihn mit ihren weißen ſtarken Armen und drückte den guten Vitalis mit ſeinem geſchornen und tonſurirten Kopf ſo derb gegen ihre Bruſt, daß er zu erſticken drohte und zu pruſten begann, als ob er im Fegefeuer ſtäcke. Es dauerte aber nicht lang, ſo fing er an, nach allen Seiten auszuſchlagen, wie ein junges Pferd in der Schmiede, bis er ſich von der hölliſchen Umſchlingung befreit hatte. Dann aber

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/105>, abgerufen am 28.03.2024.