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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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Instinct getrieben, das Bewußtsein ohne Nutzan¬
wendung und Mäßigung zu bereichern, und zu
erfahren, was es eigentlich überhaupt zu lernen
und zu bebauen gäbe in der Menschengeschichte.

So sog er, während er mit ernstem Pathos
einen bewußten freien Willen zu üben wähnte,
aber willenlos alle seine Angelegenheiten und bis¬
herige Thätigkeit da liegen ließ, wo sie zuletzt
gelegen, so sog er jetzt, einer willenlosen durstigen
Pflanze gleich die Nahrung der Erfahrung und
das Lebenslicht der Einsicht in sich und setzte da¬
mit nur den im zarten Knabenalter gewaltsam
unterbrochenen Proceß fort, aber mit um so grö¬
ßerer Schwere, als er unterdessen ein erwachsener
Mensch geworden.

Sein liebster Aufenthalt war nun das Univer¬
sitätsgebäude. Er besuchte die verschiedensten
Vorlesungen und sah überall, was da gelernt
werde, darüber alle Sorgen vergessend und das
äußere Auge vor der Zukunft verschließend, aber
innerlich umhertastend gleich der Raupe, die für
ihren bestimmungsvollen Heißhunger ein anderes
Baumblatt sucht.

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Inſtinct getrieben, das Bewußtſein ohne Nutzan¬
wendung und Maͤßigung zu bereichern, und zu
erfahren, was es eigentlich uͤberhaupt zu lernen
und zu bebauen gaͤbe in der Menſchengeſchichte.

So ſog er, waͤhrend er mit ernſtem Pathos
einen bewußten freien Willen zu uͤben waͤhnte,
aber willenlos alle ſeine Angelegenheiten und bis¬
herige Thaͤtigkeit da liegen ließ, wo ſie zuletzt
gelegen, ſo ſog er jetzt, einer willenloſen durſtigen
Pflanze gleich die Nahrung der Erfahrung und
das Lebenslicht der Einſicht in ſich und ſetzte da¬
mit nur den im zarten Knabenalter gewaltſam
unterbrochenen Proceß fort, aber mit um ſo groͤ¬
ßerer Schwere, als er unterdeſſen ein erwachſener
Menſch geworden.

Sein liebſter Aufenthalt war nun das Univer¬
ſitaͤtsgebaͤude. Er beſuchte die verſchiedenſten
Vorleſungen und ſah uͤberall, was da gelernt
werde, daruͤber alle Sorgen vergeſſend und das
aͤußere Auge vor der Zukunft verſchließend, aber
innerlich umhertaſtend gleich der Raupe, die fuͤr
ihren beſtimmungsvollen Heißhunger ein anderes
Baumblatt ſucht.

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[83/0093] Inſtinct getrieben, das Bewußtſein ohne Nutzan¬ wendung und Maͤßigung zu bereichern, und zu erfahren, was es eigentlich uͤberhaupt zu lernen und zu bebauen gaͤbe in der Menſchengeſchichte. So ſog er, waͤhrend er mit ernſtem Pathos einen bewußten freien Willen zu uͤben waͤhnte, aber willenlos alle ſeine Angelegenheiten und bis¬ herige Thaͤtigkeit da liegen ließ, wo ſie zuletzt gelegen, ſo ſog er jetzt, einer willenloſen durſtigen Pflanze gleich die Nahrung der Erfahrung und das Lebenslicht der Einſicht in ſich und ſetzte da¬ mit nur den im zarten Knabenalter gewaltſam unterbrochenen Proceß fort, aber mit um ſo groͤ¬ ßerer Schwere, als er unterdeſſen ein erwachſener Menſch geworden. Sein liebſter Aufenthalt war nun das Univer¬ ſitaͤtsgebaͤude. Er beſuchte die verſchiedenſten Vorleſungen und ſah uͤberall, was da gelernt werde, daruͤber alle Sorgen vergeſſend und das aͤußere Auge vor der Zukunft verſchließend, aber innerlich umhertaſtend gleich der Raupe, die fuͤr ihren beſtimmungsvollen Heißhunger ein anderes Baumblatt ſucht. 6 *

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/93>, abgerufen am 24.04.2024.