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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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die Tanne verschwindet, und selbst auf dem glei¬
chen Boden bildet der Lindenkeim ein rundes
Blatt, die Eiche ein gezacktes.

Heinrich's Lage erforderte, daß er sich nun
mit allem Ernste in seinem erwählten Berufe an
ein Ziel bringe, entweder seine eingetretene Muth¬
losigkeit und Täuschung in der Wahl, wenn die¬
selbe eine vorübergehende war, überwinde, oder,
wenn er sich darüber klar gemacht, mit raschem
Entschlusse ein anderes Bestimmtes ergreife, ehe
noch mehr Jahre in's Land gingen. Allein eben
zu diesem Entschlusse, noch zu irgend einem hatte
er durchaus keine Wahl, weil er sich zu dieser
Zeit an Erfahrung und Umsicht tausendmal ärmer
fühlte, als früher, da er ein bescheidenes aber
sicher begränztes Ziel verfolgt hatte. Doch er
war sich nicht einmal dieses Mangels einer Wahl
und eines freien Entschlusses bewußt, sondern wie
der Keim eines Samenkornes, sobald er etwas
Wärme und Feuchte verspürt, nur erst ein Wür¬
zelchen auszudehnen und ein Stämmchen an das
Licht zu bringen sucht, ehe er seine besondere
Blattform ansetzt, so wurde Heinrich durch seinen

die Tanne verſchwindet, und ſelbſt auf dem glei¬
chen Boden bildet der Lindenkeim ein rundes
Blatt, die Eiche ein gezacktes.

Heinrich's Lage erforderte, daß er ſich nun
mit allem Ernſte in ſeinem erwaͤhlten Berufe an
ein Ziel bringe, entweder ſeine eingetretene Muth¬
loſigkeit und Taͤuſchung in der Wahl, wenn die¬
ſelbe eine voruͤbergehende war, uͤberwinde, oder,
wenn er ſich daruͤber klar gemacht, mit raſchem
Entſchluſſe ein anderes Beſtimmtes ergreife, ehe
noch mehr Jahre in's Land gingen. Allein eben
zu dieſem Entſchluſſe, noch zu irgend einem hatte
er durchaus keine Wahl, weil er ſich zu dieſer
Zeit an Erfahrung und Umſicht tauſendmal aͤrmer
fuͤhlte, als fruͤher, da er ein beſcheidenes aber
ſicher begraͤnztes Ziel verfolgt hatte. Doch er
war ſich nicht einmal dieſes Mangels einer Wahl
und eines freien Entſchluſſes bewußt, ſondern wie
der Keim eines Samenkornes, ſobald er etwas
Waͤrme und Feuchte verſpuͤrt, nur erſt ein Wuͤr¬
zelchen auszudehnen und ein Staͤmmchen an das
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[82/0092] die Tanne verſchwindet, und ſelbſt auf dem glei¬ chen Boden bildet der Lindenkeim ein rundes Blatt, die Eiche ein gezacktes. Heinrich's Lage erforderte, daß er ſich nun mit allem Ernſte in ſeinem erwaͤhlten Berufe an ein Ziel bringe, entweder ſeine eingetretene Muth¬ loſigkeit und Taͤuſchung in der Wahl, wenn die¬ ſelbe eine voruͤbergehende war, uͤberwinde, oder, wenn er ſich daruͤber klar gemacht, mit raſchem Entſchluſſe ein anderes Beſtimmtes ergreife, ehe noch mehr Jahre in's Land gingen. Allein eben zu dieſem Entſchluſſe, noch zu irgend einem hatte er durchaus keine Wahl, weil er ſich zu dieſer Zeit an Erfahrung und Umſicht tauſendmal aͤrmer fuͤhlte, als fruͤher, da er ein beſcheidenes aber ſicher begraͤnztes Ziel verfolgt hatte. Doch er war ſich nicht einmal dieſes Mangels einer Wahl und eines freien Entſchluſſes bewußt, ſondern wie der Keim eines Samenkornes, ſobald er etwas Waͤrme und Feuchte verſpuͤrt, nur erſt ein Wuͤr¬ zelchen auszudehnen und ein Staͤmmchen an das Licht zu bringen ſucht, ehe er ſeine beſondere Blattform anſetzt, ſo wurde Heinrich durch ſeinen

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/92>, abgerufen am 25.04.2024.