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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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zu lassen und wenigstens die Ehre eines tüchtigen
Schwimmers zu erkämpfen, welcher in möglichst
gerader Richtung quer durch einen stark ziehenden
Strom schwimmt. Nur Zwei werden nicht über
solchen Strom gelangen: derjenige, welcher sich
nicht die Kraft zutraut und sich von den Wellen
widerstandlos fortreißen läßt, und der Andere,
welcher vorgiebt, er brauche gar nicht zu schwim¬
men, er wolle hinüberfliegen in der Luft, er
wolle nur noch ein Weilchen warten, bis es ihm
recht gelegen und angenehm sei!"

Dann kam Heinrich noch einmal auf den Satz
zurück, wiederholte ihn und befestigte ihn recht in
sich: die Frage nach einem gesetzmäßigen freien
Willen ist zugleich in ihrem Entstehen die Ur¬
sache und Erfüllung derselben, und wer einmal
diese Frage gethan, hat die Verantwortung für
eine sittliche Bejahung auf sich genommen.

Dies war einstweilen das Schlußergebniß,
welches er aus jenen anthropologischen Vorlesun¬
gen davontrug, und indem er dasselbe sich ernst¬
haft vorsagte, merkte er erst, daß er bis jetzt vom
Zufälligen sich habe treiben lassen, wie ein Blatt

zu laſſen und wenigſtens die Ehre eines tuͤchtigen
Schwimmers zu erkaͤmpfen, welcher in moͤglichſt
gerader Richtung quer durch einen ſtark ziehenden
Strom ſchwimmt. Nur Zwei werden nicht uͤber
ſolchen Strom gelangen: derjenige, welcher ſich
nicht die Kraft zutraut und ſich von den Wellen
widerſtandlos fortreißen laͤßt, und der Andere,
welcher vorgiebt, er brauche gar nicht zu ſchwim¬
men, er wolle hinuͤberfliegen in der Luft, er
wolle nur noch ein Weilchen warten, bis es ihm
recht gelegen und angenehm ſei!«

Dann kam Heinrich noch einmal auf den Satz
zuruͤck, wiederholte ihn und befeſtigte ihn recht in
ſich: die Frage nach einem geſetzmaͤßigen freien
Willen iſt zugleich in ihrem Entſtehen die Ur¬
ſache und Erfuͤllung derſelben, und wer einmal
dieſe Frage gethan, hat die Verantwortung fuͤr
eine ſittliche Bejahung auf ſich genommen.

Dies war einſtweilen das Schlußergebniß,
welches er aus jenen anthropologiſchen Vorleſun¬
gen davontrug, und indem er daſſelbe ſich ernſt¬
haft vorſagte, merkte er erſt, daß er bis jetzt vom
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[79/0089] zu laſſen und wenigſtens die Ehre eines tuͤchtigen Schwimmers zu erkaͤmpfen, welcher in moͤglichſt gerader Richtung quer durch einen ſtark ziehenden Strom ſchwimmt. Nur Zwei werden nicht uͤber ſolchen Strom gelangen: derjenige, welcher ſich nicht die Kraft zutraut und ſich von den Wellen widerſtandlos fortreißen laͤßt, und der Andere, welcher vorgiebt, er brauche gar nicht zu ſchwim¬ men, er wolle hinuͤberfliegen in der Luft, er wolle nur noch ein Weilchen warten, bis es ihm recht gelegen und angenehm ſei!« Dann kam Heinrich noch einmal auf den Satz zuruͤck, wiederholte ihn und befeſtigte ihn recht in ſich: die Frage nach einem geſetzmaͤßigen freien Willen iſt zugleich in ihrem Entſtehen die Ur¬ ſache und Erfuͤllung derſelben, und wer einmal dieſe Frage gethan, hat die Verantwortung fuͤr eine ſittliche Bejahung auf ſich genommen. Dies war einſtweilen das Schlußergebniß, welches er aus jenen anthropologiſchen Vorleſun¬ gen davontrug, und indem er daſſelbe ſich ernſt¬ haft vorſagte, merkte er erſt, daß er bis jetzt vom Zufaͤlligen ſich habe treiben laſſen, wie ein Blatt

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/89>, abgerufen am 25.04.2024.