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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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für das Licht und die frische Luft der Welt zu
gewinnen, welche von selbst überall da Platz neh¬
men, wo ein sperrender Gegenstand weggenommen
ist. Wenn man den Dingen in's Gesicht sieht
und sie mit Aufrichtigkeit gegen sich selbst behan¬
delt, so ist Nichts negativ, sondern Alles ist posi¬
tiv, um diesen Pfefferkuchenausdruck zu gebrau¬
chen, und die wahre Philosophie kennt keinen an¬
dern Nihilismus, als die Sünde wider den Geist,
d. h. das Beharren im selbstgefühlten Unsinn zu
einem eigennützigen oder eitlen Zwecke.

Was aber Heinrich besonders zu seinen Ge¬
danken über den freien Willen antrieb, das war
die auffallende Energie, welche in den kurzen Be¬
merkungen des Lehrers lag, gegen dessen sonstige
Gewohnheit in solchen heikeln Punkten. Denn
es war das Steckenpferd des sonst durchaus un¬
befangenen und duldsamen Mannes, die Lehre
vom freien Willen des Menschen überall anzu¬
greifen und abzuthun, wo und wie er ihr nur
beikommen konnte, und er ließ sich desnahen so¬
gar in seinen Vorlesungen an dieser Stelle jedes¬
mal zu einer kurzen aber sehr kräftigen Demon¬

fuͤr das Licht und die friſche Luft der Welt zu
gewinnen, welche von ſelbſt uͤberall da Platz neh¬
men, wo ein ſperrender Gegenſtand weggenommen
iſt. Wenn man den Dingen in's Geſicht ſieht
und ſie mit Aufrichtigkeit gegen ſich ſelbſt behan¬
delt, ſo iſt Nichts negativ, ſondern Alles iſt poſi¬
tiv, um dieſen Pfefferkuchenausdruck zu gebrau¬
chen, und die wahre Philoſophie kennt keinen an¬
dern Nihilismus, als die Suͤnde wider den Geiſt,
d. h. das Beharren im ſelbſtgefuͤhlten Unſinn zu
einem eigennuͤtzigen oder eitlen Zwecke.

Was aber Heinrich beſonders zu ſeinen Ge¬
danken uͤber den freien Willen antrieb, das war
die auffallende Energie, welche in den kurzen Be¬
merkungen des Lehrers lag, gegen deſſen ſonſtige
Gewohnheit in ſolchen heikeln Punkten. Denn
es war das Steckenpferd des ſonſt durchaus un¬
befangenen und duldſamen Mannes, die Lehre
vom freien Willen des Menſchen uͤberall anzu¬
greifen und abzuthun, wo und wie er ihr nur
beikommen konnte, und er ließ ſich desnahen ſo¬
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[69/0079] fuͤr das Licht und die friſche Luft der Welt zu gewinnen, welche von ſelbſt uͤberall da Platz neh¬ men, wo ein ſperrender Gegenſtand weggenommen iſt. Wenn man den Dingen in's Geſicht ſieht und ſie mit Aufrichtigkeit gegen ſich ſelbſt behan¬ delt, ſo iſt Nichts negativ, ſondern Alles iſt poſi¬ tiv, um dieſen Pfefferkuchenausdruck zu gebrau¬ chen, und die wahre Philoſophie kennt keinen an¬ dern Nihilismus, als die Suͤnde wider den Geiſt, d. h. das Beharren im ſelbſtgefuͤhlten Unſinn zu einem eigennuͤtzigen oder eitlen Zwecke. Was aber Heinrich beſonders zu ſeinen Ge¬ danken uͤber den freien Willen antrieb, das war die auffallende Energie, welche in den kurzen Be¬ merkungen des Lehrers lag, gegen deſſen ſonſtige Gewohnheit in ſolchen heikeln Punkten. Denn es war das Steckenpferd des ſonſt durchaus un¬ befangenen und duldſamen Mannes, die Lehre vom freien Willen des Menſchen uͤberall anzu¬ greifen und abzuthun, wo und wie er ihr nur beikommen konnte, und er ließ ſich desnahen ſo¬ gar in ſeinen Vorleſungen an dieſer Stelle jedeſ¬ mal zu einer kurzen aber ſehr kraͤftigen Demon¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/79>, abgerufen am 29.03.2024.